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Deutschlandfunk, 4 October 2005

Geordnetes Gewimmel der Menschenfischlein
Luciano Berios "Passagio" zeugt von tonalen Kämpfen

Im Nationaltheater Mannheim ist ein Werk von Luciano Berios zu sehen, das in Deutschland noch nicht auf einer Bühne war. Der Choreograph Joachim Schloemer hat dessen Titel - "Passagio" - ernst genommen und das Transitorische, den Übergang und die regelhafte Regellosigkeit in den Mittelpunkt gestellt.

Nirgendwo zeigt sich das Zerbrechen etablierter Weltbilder krasser als in der Musik, im Zerbrechen des tonalen Systems. Was mit Arnold Schönberg begann, hat sich seit den 1960er Jahren immer mehr entwickelt zu einer Untersuchung von Lauten, von Geräuschen, Stimmungen, die nun zu neuen, freilich unübersichtlicheren Strukturen zusammengesetzt werden und sich einer präzisen Funktion entziehen.

Das macht Angst - und genau das interessierte den 2003 verstorbenen Luciano Berio, der in seiner Kurz-Oper "Passagio" (also "Durchreise", "Durchfahrt"), geschrieben 1963, gleich auch die etablierte Sitz-Ordnung - hier die Bühne, da das Publikum - umstürzte und einen ganzen Chor im Publikum versteckte.

Welch Einladung für einen Choreographen! Joachim Schloemer lässt diesen Sprech-Chor, festlich gewandete Damen und Herren, tatsächlich agieren, Arme schwenkend und sich auf den Sitzen räkelnd, mit Rasseln und Trillerpfeifen, eine dazwischenredende Vox Populi, die der Protagonistin auf der Bühne immer wieder zischelnde oder herrische Ordnungsrufe erteilt.

Vorne steht eine einsame Frau, die Sängerin Deborah Lynn Cole, wie eine Priesterin im weißen Nachthemd auf einer hochgeklappten Rampe - mitten im anschwellenden Orchesterklang.

"Passagio" ist ein moderner Kreuzweg, der Kampf um stimmliche Individuation in einer chaotischen Klangkulisse, die von dem Dichter Edoardo Sanguinetti mehrsprachig mit Ausrufen und Assoziationswörtern gepflastert ist. Schloemer lässt diese Worte, unter dem kalten Licht einer Fernstraße, auf die Bühne von Jens Kilian projizieren - Ordnung, Traum, Leere, Schweigen.

Der Chor im Publikum fungiert als Einsager und Foltermeister, der die Protagonistin quält und auf einer Versteigerung als Ware feilbietet. Folgerichtig muss die Sängerin sich entkleiden; sie wird sich später sogar mit Zahlen, Farben, Preisschildern bemalen, der Körper als Schriftträger, als verstümmelter Text.

Und während im Orchester das lautmalerische Element immer mehr die Oberhand gewinnt, glucksende Wasser, rollende Kiesel, zirpende Grillen, unterbrochen von aggressiven, befehlsartigen, Angst erzeugenden Percussions-Einschüben, verwandelt sich die nackte Sängerin resigniert zu einer etablierten Oberschichtsdame mit Chanel-Kostüm, Handtasche und Puderdose, auf der Suche nach einem Schlüssel und nach ihrer verlorenen Stimme. Und der Sprech-Chor im Publikum klatscht ironischen, komponierten Applaus.

Im zweiten Teil, Schloemer nennt ihn "Tre Donne", drei Frauen, gibt es keine Worte mehr: Individualität wird aus dem Körper und seiner Lautsprache heraus entwickelt.

Luciano Berio hat über einen Zeitraum von 44 Jahren immer wieder kurze "Sequenze" geschrieben, die den Klangraum eines Einzelinstruments ausforschen und höchste Ansprüche an den Musiker stellen. Zu den Klangkaskaden des Pianisten Florian Hölscher probiert die Tänzerin Maria Pires eine Reihe virtuoser Bodenkreisel, sie geht mit den Füßen die Wände entlang, sucht immer neu nach einer Haltung im Raum.

Dann wird das orchestrale Klavier reduziert auf die (in vielen Klangfarben modulierten) Einzeltöne der Oboe des Jean-Jacques Goumez. Und während die Tänzerin versucht, ihren Körper als Stimme zu nutzen, lässt der ingeniöse Schloemer in einem Kasten, einem Aquarium den "Chor der Stummen" durcheinanderlaufen, ein geordnetes Gewimmel der Menschenfischlein, die sich wie Lemminge zur Gruppe ballen und am Ende, wie nach einem Autounfall, an der Scheibe kleben.

Die dritte Berio-Sequenz ist der menschlichen Stimme gewidmet, der Suche nach der je eigenen Ausdrucksmöglichkeit. Das 1965 für Cathy Berberian geschriebene Stück wird von Sarah Maria Sun als clowneskes Gespräch ohne Worte aufgeführt: Eine Frau im schwarzen Kleid flattert in einen Boxring und erzeugt vom Gezeter über Vogellaute und Weinen ein Bobby-McFerrin-artiges, aber eben hochabstraktes Klanggerüst, das in einer Geste des Erstaunens endet.
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Christian Gampert