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Südkurier, 25 November 2006

Katastrophe als Prozess

Der Stoff ist Jahrtausende alt, die tragisch-blutige Geschichte von der Kindsmörderin aus verlorener Ehre bleischwer. Medea hat für den geliebten Jason ihren Vater und Bruder verraten, um schließlich von diesem betrogen und verstoßen zu werden. Ihre Rache ist übermenschlich, die Mutter tötet ihre eigenen Kinder, Buße und Revanche. Zu allen Zeiten haben sich Künstler dieses Stoffes angenommen, von Euripides über Seneca, Corneille bis hin zu Grillparzer, Anouilh und Heiner Müller. Diskutiert wird die Schuldfrage, Medea als Opfer, Medea als Täterin.

Die vielleicht vielschichtigste Medea-Rezeption hat der Choreograf Joachim Schloemer jetzt am Freiburger Theater auf die Bühne gebracht. Er beschreibt das Werden der Katastrophe, die unausweichliche Konsequenz als logischen Prozess. Und er lässt die Sage in vier verschiedenen Kunstformen ihren Lauf nehmen. Als griechische Tragödie, als Tanztheater, als Violinen-Solo und als Heiner-Müller-Monolog. Da ist zunächst der Text der Euripides-Tragödie. Schloemer spielt sie als eine Art Untersuchungsausschuss. Medea rechtfertigt sich vor einem langen Richtertisch, wabernde Theaternebel machen die Wahrheitssuche schwierig. Nur die Sprache reflektiert das grausame Geschehen, Sprache verstärkt, intimisiert und verfremdet durch Mikrofone. Wenn Medea die Mikrofonkabel schließlich zu Henkersschlingen formt, stockt auch dem Publikum der Atem. Doch plötzlich wird die Szene aufgebrochen.

Bühnenarbeiter bauen quälend lang die Spielfläche um, verlegen Platten, ziehen eine verspiegelte Zwischendecke ein. Unruhe im Publikum, Zweifel an einem solch plumpen Regie-Einfall. Noch immer bauen die Arbeiter, eine Tänzerin scheint mit konvulsivischen Zuckungen die Zeit überbrücken zu wollen. Feuerrote Haare behindern ihr die Sicht, sie steigert die Extase. Kreusa, die Tochter des Kreon und Jasons neue Geliebte, tanzt den qualvollen Flammentod, den Medea ihr beigebracht hat. In dem Moment als sie zusammenbricht, sind auch die Bühnenarbeiter fertig. Aus dem Kulissenchaos aus Platten und Planen ist ein neuer ästhetischer Raum entstanden. Auch hier ist Schloemer das Werden wichtiger als das Sein.

Jetzt übernimmt die Musik den Fortgang der Handlung. Eine Geigerin spielt temperamentvoll von vier Notenpulten die "Sequenza 8" des italienischen Komponisten Luciano Berio (1924-2003). Der Komponist hat seinem Werk eine Textzeile von Edoardo Sanguineti vorangestellt: "Ich habe für dich meine Stimme vervielfacht, meine Worte, meine Vokale und ich schreie, jetzt, dass du mein Vokativ bist". Man glaubt, Medea schreien zu hören.

Inzwischen trippelt sie schon über die verspiegelte Bühne. Ein Blondchen, grellgeschminkt, ein Püppchen, das Jason tanzen lässt, ferngesteuert und fremdbestimmt. Es hüpft und piepst, erinnert an Marilyn Monroe und spricht Heiner Müllers Medea-Monolog. Atemlos schildert sie ihr Schicksal als Sklavin, Hündin und Hure. Wie Marilyn, treibt auch sie die Anpassung ins Verderben. Doch nicht ungesühnt: "Heute ist Zahltag, Jason".

Zurück bleibt ein zutiefst aufgewühltes und ergriffenes, vielleicht auch erschöpftes Publikum. Die körperliche Wirkung der griechischen Tragödie, von Aristoteles in seiner "Poetik" gefordert - Joachim Schloemer hat sie in Freiburg mit seinem Kunstwerk erzielt. Möglich gemacht hat dies vor allem Johanna Eiworth in der Titelrolle. Als ob Euripides und Heiner Müller mit ihren Texten von einer Medea-Darstellerin nicht schon genug abverlangten, fordert Schloemer auch noch den körpersprachlichen Kraftakt. Und Johanna Eiworth meistert das alles. Mit Bravour. Aber auch Julia Schröder mit ihrem exzessiven Violinspiel und Sumi Yangs extatischer Totentanz tragen zu einem großen Theaterabend bei. Viel Beifall.

Wolfgang Bager