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Südwest Presse, 24 October 2007

In extremer Situation
Er ist künstlerischer Leiter des Tanzensembles "pvc", aber als Regisseur macht er ganz große Oper: Joachim Schloemer inszeniert in Stuttgart "Die Trojaner".

Menschen in extremer Situation - Joachim Schloemer hat sie auch immer wieder in der Antike gefunden, in der griechischen Tragödie. "Neuschnee in Troja" hieß seine Choreografie, mit der sich 1993 der damalige Ulmer Ballettdirektor in den Blickpunkt der deutschen Tanzszene katapultierte. Schloemer ging bald darauf nach Weimar, später nach Basel; seit 2006 ist er künstlerischer Leiter von "pvc" (physical virus collective), dem unkonventionellen, kreativen, gemeinsamen Tanz-Projekt der Theater in Freiburg und Heidelberg.

Aber schon seit vielen Jahren arbeitet Schloemer, der stadttheaterliche Zwänge noch nie mochte, als freier und grenzüberschreitender Regisseur: vor allem in der Oper. In Stuttgart inszenierte er unter anderem erfolgreich "Rheingold" und "Orfeo", jetzt hat er fast drei Monate an den "Trojanern" von Hector Berlioz geprobt, einem Monumentalwerk der Romantik, vom Komponisten selbst nach Vergils "Aeneis" getextet; die Premiere des Sechs-Stunden-Abends findet am kommenden Freitag in der Staatsoper statt. Antikes Drama also. Der Kreis schließt sich: Menschen im Ausnahmezustand - nur dass sie nicht mehr tanzen, sondern singen.

Die Griechen wüten in Troja, Cassandre (wir sind in der französischen Oper) fordert die Frauen auf, ihr in den Tod zu folgen, um nicht entehrt, versklavt zu werden. "Die Frauen sind viel mutiger als die Krieger und Helden, in provozierend aufrechter Haltung gehen sie in den Tod. Die Griechen sind verblüfft, dass die Frauen keine Angst haben." Eineinhalb Jahre lang hat Schloemer die "Trojaner" vorbereitet, aber jetzt ist auch, wie er betont, "jeder Moment sehr genau gestaltet". Er kommt aufgewühlt aus der Probe der Kassandra-Passagen, hat vor dem Interview noch mit Generalmusikdirektor Manfred Honeck diskutiert: Ein Mann des "aktiven Regietheaters" trifft auf einen Klangkünstler, da müssen sich Szene und Musik erst finden.

"Die Trojaner", sagt der 45-Jährige, "kann man kaum machen - eigentlich. Die Oper ist sehr tricky". Soll heißen: Alle Aktion des zweiteiligen Werks, das erst den Untergang Trojas schildert, danach die Liebe von Dido und Aeneas in Karthago, ist der Musik reserviert, Handlung spielt sich in großen Bildern ab. Die Bühnenpraxis war Berlioz egal: "Da tritt der Chor auf, um vier Takte später dazustehen, und das mit 110 Personen, wie soll das gehen?" Und wie nimmt ein Stück Fahrt auf, "in dem sich nichts bewegt?"

Ein Regisseur ist gefordert, der künstlerische Ideen mitbringt, selbst Leitmotive setzt, auch Massen organisiert. Und der Tanz? Schloemer, der gerade fürs Konzerthaus Berlin und den Dirigenten Lothar Zagrosek eine Gluck-Trilogie auf die Beine stellte, ist schon lange kein Choreograf mehr, der Oper inszeniert - er ist schlichtweg Opernregisseur. Doch dass sich Inhalte "über den Zustand der Körper" vermitteln, die auf der Bühne agieren, "das ist übriggeblieben" vom Choreografen Schloemer. Es geht um Menschen mit archaischen Gefühlen, in extremer Situation. Wobei antiker Stoff gegenwartsnah auf die Bühne kommt. Joachim Schloemers Karthago ist modern: "Kein Ort, den wir kennen, eher eine Welt wie in Kubricks "2001".

Jürgen Kanold