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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13 February 2002

Schicksalsvogel Albatros im Anflug
Tanz und Musik in inniger Umarmung: Joachim Schloemers "Les larmes du ciel" im Hebbel- Theater

Auf der Bühne geben die Frauen den Ton an, im Orchestergraben die Männer. Drunten sitzen sechs Männer und eine Frau: Auf alten Instrumenten spielt das Collegium Musicum Köln unter Leitung von Attilio Cremonesi wehmütige Barockmusik, Lamento vorzugsweise, von Gesualdo, Händel, Gagliano, Monteverdi, Scarlatti und Vivaldi. Auf der Bühne stehen, scharzgekleidet, vier Frauen und nur ein Mann: die Mezzosoprane Marisa Martins und Anna Radziejewska, die Tänzerinnen Alice Gartenschläger, Olivia Maridjan-Koop, der Tänzer Graham Smith. Für die Eröffnungsszene hat der Choreograph Joachim Schloemer vier von ihnen zu einer anderen Laokoon-Gruppe eng zusammengefügt, und während das Quartett einander betatschend, sich küssend, kopulierend, ganz aufeinander konzentriert ist, umkreist sie die fünfte als Taschendiebin: entfernt Geldbörsen aus Taschen , streift Ringe von Finger, Perlenketten von Frauenhälsen. Die barocke Tragödie, das große Leid der Zeit in melancholische Musik gegossen, scheint von diesem sehr heutigen Beginn unerreichbar weit entfernt. Doch Joachim Schloemers Tanz- und Musiktheater "Les Larmes Du Ciel" (Die Tränen des Himmels) hat nicht die mindeste Mühe, von diesem grotesk-komischen Beginn sanft hinüberzugleiten in ein Theater, in dem sich barockes Weh-Gefühl und heutiger Ausdruck so innig umarmen wie Tanz und Musik.
Von den Choreographen des deutschen Tanztheaters hat Joachim Schloemer über die Jahre hin die größte Affinität zur Musik gezeigt und sich immer wieder auch mit der Oper, zumal der frühen, auseinandergesetzt. Er sieht sich als Grenzgänger zwischen den Welten von Tanz und Musik. So nimmt es kaum wunder, daß die erste freie Produktion, die Schloemer nach zehn Jahren im festen Engagement - als Thanztheaterdirektor in Ulm, Weimar und zuletzt Basel - in Angriff genommen hat, "Les Larmes Du Ciel", die in den letzten Januartagen in Luzern herauskam und nun drei Tage lang im Berliner Hebbel-Theater zu sehen war, sich die Verschmelzung von früher Oper und Tanztheater nicht nur zum Ziel gesetzt hat, sondern dieses Ziel auf grandiose Weise auch erreicht.
Es ist zwar nicht so, daß Schloemer auf der von Jens Kilian entworfenen Bühne - auf der ein aus einer hellen Rückwand herauswachsender Turm eine fast leere Fläche überragt - seine fünf Akteure gleich behandelte. Die Fülle des sängerischen Wohllauts ist durchaus den beiden Sopranistinnen vorbehalten, während für die Tänzer das eine oder andere eingestreute kleine Divertissement reserviert ist, das sie elegant exekutieren. Doch wenn die Choreographie ihre kleinen absurden Geschichten erzählt, macht sie keine Unterschied zwischen Sängerinnen und Tänzern, sondern fordert allen den gleichen körperlichen Einsatz ab,. Schloemer sagt von sich , daß er am liebsten Geschichten erzähle, "die gar keine sind, weil sie so nie passiert sein können, da sie zeitlich und räumlich nicht zueinander passen", und das tut er auch hier. Es sind Geschichten, die sich im Körperlichen manifestieren und in dem , was mit Körpern anstellen kann, Dabei herrscht eine erstaunliche, der barocken Musik mit ihrer Diskrepanz von beklagtem Unglück und schöner Klage allerdings durchaus entsprechende Mischung aus Zärtlichkeit und Grausamkeit.
Immer wieder verdrehen und verzerren die Mitspieler einer der Darstellerinnen die Glieder und zwingen sie in groteske Körperhaltungen. Sie stellen sie auf kleine Holzklötze und lassen sie auf ihnen aus dem Hintergrund gegen die Bühnenrampe marschieren. Im Extremfall fesseln sie eine der beiden Sängerinnen und verschnüren sie mit dicken Stricken zu einer unförmigen Körperplastik. Die andere haben SIBILLE schon früh (wenn auch nur vorübergehend) in eine Gliederpuppe verwandelt, die in einem überraschenden, bösen Theatercoup einfach in den Orchestergraben gekippt wird, als man sie nicht mehr benötigt. Eine merkwürdige Sonderstellung hat Schloemer dem einzelnen Mann auf der Bühne zugeteilt. Der Schicksalsgemeinschaft der Frauen, die sich ihrerseits durchaus nicht nur solidarisch verhalten, sondern auch zickig ihren Platz auf der Bank streitig machen, die das einzige Bühnenmöbel darstellt, gehört er nur in wenigen Szenen an . Oft verabsentiert er sich. um in den Turm hinaufzusteigen, wo er mit Kreide das Gemälde einer Albatrosschar anfertigt, die - offenbar eines der Symbolbilder der exakt neunzigminütigen Aufführung - mit ausgebreiteten Schwingen auf den Zuschauer zufliegt. Dort entledigt er sich seiner Oberbekleidung und bemalt sich Gesicht, Arme und Beine kalkweiß, oder er bringt kleine, an Drähten befestigte Papierflieger an seien Extremitäten an. wie diese sind auch manche anderen Bilder und Szenen der Aufführung mit realistischer Logik nicht zu erklären.
Die Aufführung spielt, wie viele frühen Beispiele aus den Kindertagen des Tanztheater, etwa die Gluck-Choreographien der Pina Bausch, phantasievoll mit surrealen Einfällen, von denen das Boot, das Smith an einem langen Faden quer über die Bühne zieht, oder das von fünfsprachigen Texten begleitete Lager der übereinandergegossenen Frauen im Turm zu den schönsten gehören. Schloemers Melange aus Tanz und Musik zählt fraglos zu den anspruchsvollsten theatralischen Produktionen der Spielzeit und fordert dem Publikum einiges ab. Aber wer sich auf ihren langsamen, stetigen Musik- und Bilderfluß einläßt, wird mit einer der schönsten Aufführungen belohnt, die das europäische Theater derzeit zu bieten hat.

Jochen Schmidt