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Stuttgarter Zeitung, 13 April 2004

Im Glashaus
Joachim Schloemers szenisches Projekt zu Salvatore Sciarrinos' "Infinito nero" im Stuttgarter Forum Neues Musiktheater

"Eins!" befiehlt eine Männerstimme barsch durch ein Megafon. Ein Gruppe junger Leute in alltäglicher Freizeitkleidung erhebt sich und steht stramm in Reih und Glied. "Zwei!" sagt die Stimme, und alle legen sich auf den Boden, wo sie vorher, jeder ein Glas mit einem Teebeutel neben sich, gekauert haben. "Drei, bitte!" ertönt es etwas versöhnlicher aus dem Megafon, und wieder ändern die Teilnehmer dieser Prozedur gehorsam ihre Position. Die "Fünf!" muss der Leiter allerdings nachdrücklich wiederholen, bis seiner Aufforderung Folge geleistet wird.
Dressur von Menschen? Ein Sektenritual? Oder ganzheitliche Übungen für Körper, Seele und Geist bei einem gruppendynamischen Seminar für Manager? Die Megafonstimme gibt Entwarnung, es wird heller, dezente Popmusikbeschallung hebt an. Alle gehen kreuz und quer im Raum herum, stellen geschäftig Stühle um. Musiker packen ihre Instrumente aus, bauen Notenständer auf. Wir sind bei einer Probe im Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart im Cannstatter Römerkastell, und jetzt, so scheint es, ist Pause.
In Wirklichkeit hat freilich die Vorstellung mit jener Probe bereits begonnen. Hereingekommen sind wir durch einen langen, immer enger und niederer werdenden Gang aus Sperrholz, eine Art Geburtskanal, an dessen Ende wir die am Boden kauernden Gestalten bei ihrer seltsamen Teezeremonie angetroffen haben, um dann auf Pappkartons rund um die Spielfläche Platz zu nehmen.
"Projektbeschreibung" nennt der Choreograf und Regisseur Joachim Schloemer das, was er zu Musik von Salvatore Sciarrino und anderen Tonsetzern zusammen mit dem Freiburger Ensemble Recherche und 17 Mitwirkenden aus den Bereichen Komposition, Regie, Bühnenbild/Gesang, Schauspiel und Medien erarbeitet hat und nun hier nicht als fertiges Stück, sondern als "szenisch-musikalisches Dokument eines Arbeits- und Forschungsprozesses" präsentiert. Bei Folgevorstellungen soll das "Material" weiter verändert und entwickelt werden.
Im Zentrum dieses ersten großen Projekts im Forum Neues Musiktheater steht Sciarrinos halbstündiger Einakter "Infinito nero" für Mezzosopran und Instrumente, der gleich nach dem beschriebenen Beginn in verschiedener räumlicher Konstellation zweimal hintereinander gespielt wird. Sciarrino (Jahrgang 1947) gehört zu den renommiertesten italienischen Komponisten unserer Tage, seine "Opern" haben derzeit auch in Deutschland Konjunktur. [...]
Wie "Infinito nero" nach Textfragmenten der Mystikerin (oder Schizophreniekranken?) Maria Maddalena de' Pazzi (delikat gesungen von Sarah Maria Sun) ist auch Sciarrinos "Vanitas" für Stimme, Cello und Klavier musikalisch zelebrierte Stille, ein Kontinuum naturhaft anmutender Geräusche, Rhythmen und Töne, die in permanent variierten Kombinationen entfaltet werden. Michael zur Mühlen und Sebastian Hannak haben die Musiker bei diesem klingenden Stillleben im Forum Neues Musiktheater in einen großen drehbaren Glaskasten gesetzt, dessen Wände mit schwarzweiß kopierten, vage erkennbaren Porträtfotos, Pinups und Softpornobildern beklebt sind. Während die Sängerin Rosemara Ribeiro in berührenden Lauten ihre Seele erkundet, lösen sie sich nach und nach ab und flattern wie Symbole der Vergänglichkeit zu Boden.
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Gleichwohl entsteht im Forum Neues Musiktheater insgesamt ein buntes, von sporadischen Megafoneinwürfen witzig strukturiertes Projektpanorama. Als Adagio-Kehraus gibt es zu Salvatore Sciarrinos Klavierklängen (Anja Kleinmichel) ein Video und Geräusche vom großen Reinemachen vor Ort.

Werner Müller-Grimmel