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Neue Luzerner Zeitung, 18 August 2008

Im Kopf verschlingen sich die Körper
Traumhafter Einstand für Joachim Schloemer: Sein Stück «in schnee» verhilft dem Festival zu einem frühen theatralen Höhepunkt.

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Schon die erste Produktion im Luzerner Saal hat auf Anhieb alle Erwartungen erfüllt. Das wurde bei der Premiere des Musiktheaters «in schnee» von Artiste Etoile und Choreograf Joachim Schloemer von Beginn an klar. Da verliert ein Mann («C.») die Fassung, bis aus dem riesigen, schneeweissen Stoffkubus auf der Bühne eine geheimnisvolle Frau hervorkriecht und ihn verführt. Diese Verführungsszene verbindet die Gefühlskraft einer Kinoszene mit der nahen Körperlichkeit eines verschlungenen Bühnentanzes: Die Frau arbeitet sich in Mantel, Hemd und Hose des Mannes hinein, bis ihr Kopf gleichsam in seinem Innern verschwindet und nur noch ihr Fuss aus dem Ärmel herausragt.

Das war nicht nur tänzerisch grosse Klasse, sondern brachte auch das Thema des Abends auf den Punkt: Der Einzelgänger, der in der Begegnung mit anderen, erst der Frau und später einer Gruppe, zu sich selbst findet und seine Identität verliert (charakterstark: Daniel Jaber als C., Su-Mi Jang, Paea Leach, Clint Lutes und Maria Pires).

Schloemer entwickelt das im grossen Bogen wie in vielen fantasievollen Details weiter, wofür Bachs sechs Cellosuiten eine verblüffend stimmige musikalische Grundlage bieten (vorzüglich die Cellisten Sebastian Diezig, David Pia und Mattia Zappa). So findet die Spannung zwischen Solostimme und vielschichtiger Polyfonie auf der Bühne direkte Entsprechungen. Das Prinzip der körperlichen Verschlingung aus der Verführungsszene wird in der dritten Suite auf die ganze Gruppe übertragen, wenn die Körper der Tänzer wie Wellen über die Stuhlreihen stürzen und die Ordnung, die C. zu bewahren sucht, durcheinanderbringen.

In den letzten Suiten wird der Tanz radikal reduziert, alles entpuppt sich als Halluzinationen in C.s Kopf. Mit der Videoprojektion der Verführungsszene, die C. verzweifelt mit einer Art Schneebrett in der Luft einzufangen versucht und dabei immer nur ein Fragment erwischt, findet die Inszenierung dafür ein traumhaft schönes Bild.

MAT