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Ballett international, 11/1995

Eine schottische Zeitreise
"Hochland" von Joachim Schloemer

[...] Das Bewegungsvokabular der fünfzehn Tänzer (sieben Frauen, acht Männer) ist auf wenige Gesten reduziert. Stimmungen und Posen werden ausgestellt - aber keine Charaktere. Die Figuren treten auf, finden manchmal zu kurzen synchronen Abläufen und verschwinden wieder. Tänzerische Abläufe werden angerissen und enden abrupt: Ein unaufhörliches An- und Abschwellen von Auftritten und Abgängen, von kurzen Momentaufnahmen, die sich, kaum daß sie Kontur gewinnen, schon wieder auflösen. Schloemer zaubert eine surreale Wunderwelt auf die Bühne, in der alle Metamorphosen möglich werden: Die Geschichte eines Liebespaares, die Verzweiflung eines Verstoßenen, die Verwandlung der Tänzerin Dorforchester, Wald, Karnevalsgesellschaft oder Blumenlandschaft. Die Bilder sind - manchmal spröde, manchmal berückend schön - von trockener Ironie. Vielleicht gelingt es dem Choreographen gerade deshalb, romantische Bilderwelten zu evozieren, ohne in den Kitsch abzugleiten. Die kurzen, idyllischen Tableaus werden sofort gebrochen - eine mentale Geisterbahn, in der Zuschauer, die klare Konstellationen, eindeutige Sichtweisen und Identifikationsmomente suchen, unweigerlich den Halt verlieren.
Den Figuren scheinen bestimmte gestische Konnotate angeheftet, die sie wie Nummern immer wieder vorführen. So durchquert eine Frau im schweren roten Samtkleid divenhaft, die Arme tragisch erhoben, mehrmals die Bühne. Eine andere bringt ihre Handgelenke in immer neue Verdrehungen, als versuche sie herauszufinden, ob überhaupt noch Blut durch ihre Adern fließt. Eine Aura von Stummheit und Autismus umgibt diese Figuren. [...] Alles zieht vorbei, nichts läßt sich halten. Ein ebenso verwirrendes wie faszinierendes Reisetagebuch.

Michaela Schlagenwerth