Foto

Die Zeit, 05/2003

Der zerstückelte Mythos
Joachim Schloemer inszeniert Hofmannsthals "Elektra" in Wien

Die Atriden sind ziemlich heruntergekommen: Klytämnestra (Anne Bennent), eine müde, pillenschluckende Salonschlange im BH. Elektra (Sabine Haupt), Nervenbündel und aufsässige Göre in Männerunterwäsche, deren abrupte Bewegungen sich in hysterische Tics verwandeln. Die Männer Ägisth (Johannes Terne) und Orest (Edmund Telgenkämper): stumpfe Kraftkerle in Schottenrock und Fleischerschürze, schuhplattelnd, messerwetzend, lächerlich.
Eine kaputte Bande, die in Katerstimmung und höhnischer Indifferenz dem Geschäft des Mordens nachgeht. Enttäuschte und Betrogene am Tag danach, die mit Gewalt und Leidenschaft noch einmal das Leben ergreifen wollten und jetzt erkennen, dass sie weniger haben als zuvor. Elektras Rache, das Hinschlachten von Ägisth und Klytämnestra: nur noch ein schlaffes Dacapo in einem seelenlosen Szenario.
Joachim Schloemer inszeniert im Kasino der Wiener Burg eine Groteske der Grausamkeit in Ruinenlandschaft. Das Blattgold in Mykenes Schloss ist matt geworden, der Putz hat Risse, die Möbel sind in Plastik gewickelt. Ein gewaltiger Holzzylinder - halb Wasserzisterne, halb Hungerturm - ragt in den Bühnenraum (Jens Kilian).
Die Tragödie ist nicht einfach. Wie lässt sich der hohe Ton aus verwehten Zeitaltern in eine prosaische Gegenwart versetzen? Wie kann das Pathos der Antike für eine Epoche neu aufgeladen werden, in der sich Moderatoren zwischen die Individuen und ihre Gefühle zwängen und ihnen den Rhythmus der Emotionen vortanzen?
Schloemer weiß, dass eine lineare Inszenierung der Tragödie nicht mehr geht. Und dass er es bei Hugo von Hofmannsthals Elektra bereits mit einem Palimpsest zu tun hat: einer präraffaelitischen Wiederaneignung des Dramas, einem ausgebleichten Knochenhaufen aus Phrasen, der das Gemetzel in der Familienhölle der Atriden in das preziöse Sprachkostüm des Fin de Siècle kleidet. Flauberts neoorientalische Exaltationen aus Salammbô und Freuds Studien zur Hysterie swingen im Hintergrund leise mit.
Schloemer möchte den Mythos zurückgewinnen, dessen Patina abrubbeln und zeigen, dass das Erhabene in die Sprachschablonen und Bewegungsmuster der MTV-Ära übersetzt werden kann, ohne die archaische Kraft einzubüßen. Die Mythenproduktionsmaschine der Gegenwart aber ist das Rock-'n'- Roll-Spektakel. Und so schreit Elektra "Schweig und tanze!" in ein Mikrofon am Bühnenrand, und ihr geblümter Umhang wölbt sich wie das Cape von James Brown. Als sie in der großen Szene mit Klytämnestra die Todeslitaneien aus dem Herzen der Finsternis deklamiert, erscheint ihr Gesicht als Projektion auf dem Holzzylinder: Eine fein gezeichnete Kontur des Grauens, die Stimme von todesmetallischen Gitarren zerstückelt, die Seele schnaubend und stöhnend in den Außenraum gestülpt.
Der Regisseur hat kein Rockmusical inszeniert, sondern eine hektische Szenenfolge in ständig wechselnden Rhythmen und abgestuften Klangvaleurs zwischen dröhnendem Lärm und dünnen Tönen aus dem Kofferradio, bei der Zeitgenössisches beiläufig einsickert. Ein Stück, das sich keinen Gleichtakt der Entwicklung gönnt, sondern im Cut-up Pathos und Parodie, lässige Körperlichkeit und steifes Ritual, narrative Verdichtung und inszenatorische Auszehrung zusammenschneidet. Der dramatische Höhepunkt, die Ermordung des verbrecherischen Königspaares, wird als Foto-Shooting für eine Werbeagentur angerichtet. Elektra im Taumel der Simulationen und Medienbilder. Die Geburt der Tragödie aus dem Geist des Videoclips. Finsternis gesät und Lust über Lust geerntet. Man kann das mögen oder nicht. Aber es hat sich gelohnt.

Thomas Miessgang