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Wiener Zeitung, 14 May 2001

"Verrückte" Wirklichkeit
Artaud-Abend im Burgtheater-Kasino: "Die Nervenwaage"

Wie schnell die scheinbar normale Wirklichkeit zu einer "verrückten" werden kann, führt Joachim Schloemer mit einem exzellent agierenden jungen Ensemble im Laufe des von ihm gestalteten Artaud-Abends überzeugend und überdies höchst unterhaltsam vor Augen. Da genügt es schon, ein oder zwei Tischbeine mit provisorischen Unterlagen zu erhöhen, um das Gleichgewicht empfindlich zu stören und alltägliche Bewegungen - wie etwa Niedersetzen - ins Absurde zu steigern.
Solch lustvoll-überraschende Einblicke offeriert die mit choreographischer Präzision ablaufende Inszenierung aber nicht nur beim "Tischexperiment". Schloemer und sein Dramaturg Stephan Müller schlagen einen bisher kaum begangenen Weg ein, um den Intentionen des viel gedeuteten und erst posthum zur Ikone der Avantgarde hochstilisierten
Theaterrevolutionärs Antonin Artaud (1896 bis 1948) nachzuspüren. Artaud, dem auch in der "normalen" Lebensrealität das Verhältnis von Denken, Sprache und Materie zum unlösbaren Problem geriet, lehnte sich schon in den zwanziger Jahren gegen die Unverbindlichkeit des konventionellen, auf dem gesprochenen Text basierenden Bildungs- und Unterhaltungstheater auf und entwarf schließlich in seinen vielfach missverstandenen theoretischen Schriften die von rituellen außereuropäischen Theaterformen inspirierte Utopie einer aufwühlenden, körperlich vermittelbaren Theatersprache jenseits der Kluft zwischen Physis und Intellekt.
Schloemer und Müller stützen sich in ihrer Bilderfolge zwar auf ausgewählte Artaud-Texte und Exegesen - z. B. von Susan Sontag -, doch sie zwingen den 17 mit Musik angereicherten Szenen keine diskursive Logik auf. Auch die gesprochene Sprache beeindruckt - so wie das Atmen der Darsteller - primär durch physische Ausdruckskraft. Zwar müssen sich die "Akteure l bis 7" - unter ihnen zwei Frauen -, unterstützt von zwei "Kämpfern" und zwei "Saaldienerinnen", dem Drill von "Körperübungen" unterziehen, doch trotz Disziplinierung der Physis dominiert die Lust am Komödiantischen, das wohl verblüffende Pointen liefert und trotzdem Grundfragen der menschlichen Existenz - Verzweiflung angesichts einer unerklärbaren Welt, Wissen um den unausweichlichen Tod - nicht ausspart.
Fazit: Eine faszinierende, mitreißende, unterhaltende und zugleich aussagekräftige Artaud-Lektion, die ohne Geheimnistuerei möglicherweise den Geheimnissen von Artauds nach wie vor rätselvoller Theatersprache nahe gekommen ist.

Hilde Haider-Pregler