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Kurier, 14 May 2001

Wenn die Nervenstränge theatralisch vibrieren
Kasino: "Die Nervenwaage. Ein Stück zu Antonin Artaud"

Eine Annäherung an den unglücklichen Literaten, Schauspieler und Regisseur Antonin Artaud - muss sie nicht zwangsläufig köpf- und textlastig sein? Nein, hat Joachim Schloemer befunden. In seinem Projekt "Die Nervenwaage" ist der 1948 verstorbene Surrealist anders präsent. Physisch wie psychisch.
Eine Turnhalle hat Jens Kilian im Kasino am Sehwarzenbergplatz errichtet, wo sogenannte "Körperübungen" abgehalten werden. Laufen, springen, robben, kriechen, ringen, kämpfen und gegen Wände knallen - das Leben als beständige Auseinandersetzung. Mit sich selbst, mit dem Körper, mit der Seele.
Video-Projektionen als bedrohliche Verstärker; Artauds Texte in gekünstelt-fesselnde Bilder gesetzt. Reden und Aktionen, laute Bewegung und leise Erstarrung - Regisseur Joachim Schloemer choreografiert präzise Nervenzustände, sucht Artaud mittels verstörender Assoziationen.
Und Schloemer findet Artaud: Er seziert Ideen, Gedanken, Angstzustände. Das Innere wird brutal nach außen gestülpt, wird in aller Konsequenz visualisiert. Denn jenseits des Denkens beginnt die Wahrheit, die auch ein herrliches Spiel mit theatralischen Formen sein kann.
Gesten und Worte zwischen Lachen und Weinen. Die (gut erstellte) Textcollage aus den Werken Artauds als roter Faden einer Meditation über die essenziellen und geheimnisvollen Dinge des Lebens. Und über das Scheitern einer geistigen Revolution. Johanna Eiworth, Sabine Haupt, Adrian Furrer, Daniel Jesch, Michael Masula, Hanspeter Müller sowie Edmund Telgenkämper - sie sind die entpersonalisierten Akteure, die auch körperliche Höchstleistungen vollbringen müssen. Die Dramaturgie von Stephan Müller trägt; zwei Kämpfer und zwei Saaldienerinnen verleihen der theatralischen Studie rituellen Charakter. Ein Rest an Mysterium bleibt. Gut so.

Peter Jarolin