Foto

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31 May 2007

Diese Musik narkotisiert
Zemlinskys "Traumgörge" an der Deutschen Oper Berlin

[...]

"Der Traumgörge" ist ein Chef-d'oeuvre des Expressionismus: eine spätromantische Künstleroper mit freudianisch doppelbödiger, blumig in die Breite wuchernder Story; mit Musik von suchterregender Schönheit, mit liedhaft auf Anhieb einleuchtenden Melodien und chromatisch wuchernder Harmonik, einem guten Halbdutzend dankbarer, großer Sängerpartien, zündenden Arien und Ensembles, turbulenten Chorszenen und einer intensiv glühenden Orchesterfarbenpracht, die narkotisierende Wirkung entfaltet. Eine gewiss kanten- und uferlose, aber gerade in dieser ihrer Eigenschaft der Offenheit nach allen Seiten hin zugleich eine hinreißend gelungene Komposition. Sie könnte heute volle Häuser bringen wie die Wagner- und Strauss-Opern auch. Doch dazu kam es nicht. Für fast zwanzig Jahre verschwand der "Traumgörge" wieder von der Bildfläche, bis sich jetzt die Deutsche Oper Berlin daranwagte - und sie landete, unter Anspannung aller Kräfte, damit endlich wieder einen künstlerischen Erfolg: den ersten seit langem.

Der kanadische Gastdirigent Jacques Lacombe fordert Chor und Orchester zu Glanz und Fülle heraus, allenfalls wünschte man sich, zumal in den Ensembles, ein Quentchen mehr Transparenz. Viele Partien sind aus dem Ensemble heraus besetzt, und zwar punktgenau, typengerecht. Der junge lyrische Tenor Peter Kaufmann, der in der kleinen Rolle des Ausrufers Züngl brilliert, ist noch ein Stipendiat. Die famose Sopranistin Manuela Uhl bringt ihre Doppelrolle als lockende Prinzessin einerseits, elende Dorfhexe andererseits auf dramatische Weise zur Deckung. Auch Fionnuala McCarthy als püppchenhaft-komische Grete und Markus Brück als ihr sonorer Traumheld Hans machen ihre Sache hervorragend, ebenso Wirt (Jörg Schörner), Wirtin (Stephanie Weiss) und die zickige Räuberbraut Marei (Jacquelyn Wagner). Herausragend agiert schließlich Steve Davislim (als Gast) in der Titelrolle als passiver Anti-Held. Er ist der weltfremde Dichter und Visionär, der sich erst brennend wünscht, dass alle Märchen lebendig werden müssen, und, als dies (fast) geschieht, nicht damit zurechtkommt. Aufstände kündigen sich an, Chaos droht, gar ein Pogrom, bis sich schließlich doch das Gute, Wahre durchsetzt. Ein zuckersüßes Happyend wie dieses hat Seltenheitswert: "Lass uns träumen und spielen, aus dem schlummerstillen Leben goldig helle Funken schweben!" singen Görge und seine Gertraud im Duett. Man mag einwenden, das sei nichts weiter als blühender Kitsch, und tatsächlich erscheint die verschwurbelt altertümelnde Sprache, die das Libretto von Leo Feld beseelt, über weite Strecken unerträglich.

Regisseur Joachim Schloemer und Ausstatter Jens Kilian haben der in höchsten Registern sich verlierenden Heile-Welt-Botschaft des Nachspiels denn auch konsequent misstraut. Werden wir aus dem Graben immerfort umgarnt und verführt, so ist der Blick auf die Bühne allezeit knallhart ernüchternd. Eine betongraue Rolltreppenhalle - Bahnhofsvorplatz oder Einkaufszentrum - bildet das Einheitsbühnenbild. Raffinierte Lichtwechsel vergolden oder verdüstern diese Tristesse, je nachdem. Und die Gemeinschaft der Seligen, zu der Görge am Ende findet, wird entlarvt als das Schein-Glück einer Sekte, in der sich alle am Ende gegenseitig umbringen. Görge sitzt mit seiner Liebsten rührend einsam an der Rampe. Harfen zirpen. Hinter ihm türmt sich ein Berg von Leichen. [...]

Eleonore Büning