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Berliner Morgenpost, 29 May 2007

Abgründiges Großstadtmärchen
Ausgeträumt: In der Deutschen Oper wird Zemlinskys Oper "Der Traumgörge" radikal in die Gegenwart gezerrt

Die Um- und Nachwelt hat Alexander von Zemlinsky alles andere als gut behandelt. Sein Werk und sein Leben fielen den Nazis zum Opfer. Als er endlich Wiederauferstehung hätte feiern können, war er längst tot. Von Aktualität konnte bei Zemlinsky willentlich niemals die Rede sein. Er war ein großer Komponist auf seinen ganz eigenen Wegen. Das macht die Aufführung von "Der Traumgörge" an der Deutschen Oper streckenweise überwältigend deutlich. Doch eine bloße Wiedergutmachungsleistung ist die Aufführung nicht. Sie dichtet sich inszenatorisch aufrüttelnd weit über den von Zemlinsky gesetzten Schlusspunkt hinaus. Sie weiß zu erschrecken.

Vor dem ersten Weltkrieg für die Wiener Staatsoper unter Gustav Mahler komponiert, erlebt "Der Traumgörge" erst 1980 seine Uraufführung in Nürnberg. Er war von seinem Librettisten Leo Feld und von Zemlinsky als eine Märchenoper im Gefolge mancher Meisterwerke erdacht, wie sie das Nach-Wagnerianertum mit "Hänsel und Gretel" liebte und mit Humperdincks "Königskindern" sogar in die New Yorker Metropolitan hineinzudrücken verstand. So zumindest stand auch der "Traumgörge" auf dem Papier. Die Noten aber sprachen von Anfang eine andere Sprache, und Jacques Lacombe lässt sie mit dem glänzend mitziehenden Orchester deutlich erklingen. Es ist eine Musik, die sozusagen mit tausend Wassern gewaschen ist. Sie verdichtet sich in einem unerhörten Nachspiel zu einer einzigartigen Verkündungsmusik. Sie spricht von einer glücklichen Lebenserfüllung der Menschheit.

Philemon und Baucis singen am Ende ihrer Lebenstage einander in Dankbarkeit zu. Die Regie spuckt ihnen freilich nachdrücklich in die Glückseligkeits-Suppe. Sie reißt hinter dem Rücken der Beseligten den Vorhang noch einmal auf und zeigt nichts als Entsetzen: Hingemetzelten Frieden, Leichenhaufen von Frauen und Kindern, verbrannte Erde. Und dazu erklingt Zemlinskys musikalische Weltabgewandtheit in ihrer zauberhaften Entrückung. Joachim Schloemer, der Regisseur, hat in seiner Inszenierung weiter gedacht, als Zemlinsky es konnte. Er hat ein volles Jahrhundert der Weltuntergänge hineingepackt. Er hat dem Werk seine Idylle ausgetrieben.

Die dörfliche Handlung rund um den notorischen Träumer Görge hat er in den Abgrund der Gegenwart verlegt, in einen Büro- oder Bunkerbau mit still liegenden Rolltreppen, Aktentaschenmännern, die eifrig die Stufen hinauf und hinunter laufen. In ihrer Mitte kramt Görge weltverloren in einem Papier. Er träumt sich in ein Jenseits, zu seiner Traumfrau, einer Prinzessin zu Pferde, empor. Prompt verlässt er die brave Grete.

Aber ach - nirgends hat Görge Glück und Seelenruhe gefunden. Er ist nahe auf den Nullpunkt heruntergekommen, als er auf Gertraud trifft, die Dorfhexe der U-Bahnstation Gleisdreieck, von Jens Kilian betonselig und protzig erbaut. Görge nimmt Gertrude vor der mörderischen Verfolgung in Schutz. Er entsagt endgültig der blutigen Turbulenz aller Mitmacherei. Das Nachspiel zeigt ihn Hand in Hand mit dem Glück. Nur hinterrücks geht das Morden, Brennen und Sengen weiter. Am Ende steht Hoffnungslosigkeit und Entsetzen.

Steve Davislim singt mit schlanker Stimme anrührend von diesem Sich-Gesund-Träumen. Manuela Uhl kommt durch plötzliche Erkrankung von Michaela Kaune gleich zu zwei Rollen, die sie tapfer durchsingt: die der Prinzessin und die der Gertraude.

Klaus Geitel