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TagesAnzeiger, 7 March 2000

Kunstwerk gelungen, Menschen tot
Zeitgenössisches Musiktheater in Zürich, gibt es das? Dann und wann schon. Neuerdings auch dank des Ensembles für Neue Musik. Der Besuch lohnt sich allemal.

Das Ensemble für Neue Musik wagt sich an die Oper. Nach Jahren der Spezialisierung auf zeitgenössische Klein-Ensemble-Musik hat es im vergangenen Jahr eine Theaterformation gegründet, die unter dem programmatischen Namen "Die Szene Zürich" das hiesige Vakuum im aktuellen Musiktheater etwas auffüllen soll. Noriko Hisada hat die Musik zum ersten Projekt, "Das Höllenbild", geschrieben, Joachim Schloemer hat es inszeniert - und beides zusammen war wohl eine glückliche Wahl. Die Komposition der 37-jährigen Japanerin liegt exakt auf der Linie des Ensembles. Gewandtes Zusammenspiel von Klavier, Schlagzeug, Cello, Violine, Flöte und Klarinette in oft vertrackter Rhythmik wird dabei ebenso verlangt wie ausgedehnte Instrumentalsoli und atmosphärische Differenzierung von meditativem Stillehalten bis zum grossen pathetischen Ausbruch. Und mit dem Basler Ballettdirektor Joachim Schloemer hat ein Könner gezeigt, wie die Kraft einer einfallsreichen Regie den etwas selbstreferenziell engen Rahmen von Hisadas Werk zu geweiteter Aussage bringen kann. Einfacher gesagt: Schloemer vermählt den japanischen Mythos des Stoffs mit europäischer Psychologie und macht das Ganze damit erträglicher - und spannender dazu.

Der Stoff: Der Maler ist der grösste Maler des Landes, er kann aber nur malen, was er sieht. Der Fürst gibt ihm den Auftrag, ein Bild der Hölle zu erstellen, als Anschauungsobjekt wird die Tochter des Malers tanzend im Feuer verbrannt. Der Maler malt sein Bild, er ist der grösste Maler des Landes - und nimmt sich das Leben. Diese etwas schwüle Metapher für Kunst und ostphilosophischen Vervollkommnungswahn relativiert Schloemer ein Stück weit: Nach einem getanzten (Jean-Guillaume Weis) und ironisierend erzählten Prolog knien Maler (Tetsuro Kitamura) und Fürst (Seiji Makino, japanisch gewandet) in ritueller Gebetshaltung am Boden, dialogisieren, ohne sich anzusehen. Die Tochter (Silja Clemens) sortiert derweil mit archäologischer Akribie Knochen aus der Asche eines bereits abgebrannten Feuers. Alle drei sind sie eingesperrt, umfangen von einem Wassergraben, in dem Spielzeuge einer zerstörten Mädchenkindheit herumliegen, und bewacht vom uniformierten "Diener" (Jean-Jacques Knutti) in luftiger Höhe (Bühne und Kostüme: Jens Kilian). Zuletzt vergiftet sich der Maler tatsächlich, während die Tochter ihr Feuer im Wasser löscht und vergeblich eine Ausflucht aus diesem stickigen Klima von männlichem Kunstfanatismus sucht.

Grosse Kunst geht über Leichen. Über die eigene und über jene der zu ihrem Zweck (aus-)geschlachteten menschlichen Beziehungen. Derartige Ideale werden in Japan wohl länger mit einer Faszination für die Tragik des Fanatischen kultiviert als in Europa, wo die rücksichtslose Verwertung des echten Lebens fürs Gesamtkunstwerk seine faschistische Pervertierung schon hinter sich hat. Daran mag es auch liegen, dass uns Schloemers Zugang auf den Stoff menschlicher erscheint als Noriko Hisadas bohrende Verklärung. Vielleicht liegts aber auch einfach an der Wirkungsmacht der eingesetzten Mittel. Während die Inszenierung die grotesken Dimensionen der überhohen SEV-Halle raumgreifend nutzt und mit Licht und Wasserspiegelungen (Licht: Lutz Deppe) raffinierte Bildeffekte erzielt, verharrt Hisadas Musik in etwas angestrengt zurückhaltender Gestik, ehe sie denn mit gross angelegten Ostinati das ungebrochene Pathos des Schlusses ansteuert. Subtile kammermusikalische Entwicklungen und schöne Klangentdeckungen finden sich darin, manchmal aber auch etliche Längen im dramatischen Verlauf.

Vor zwei Jahren bereits hatte das Ensemble das Stück Hisadas konzertant gegeben. Auch jetzt, in der szenischen Uraufführung, nimmt es sich unter Jürg Hennebergers Leitung der Partitur mit bewundernswerter Genauigkeit und einem ganz in den Dienst der Sache gestellten Engagement an. Zum letzten Mal übrigens sind damit der kühle Industriecharakter und die spektakuläre Höhe dieser SEV-Halle theatralischen Genüssen zugute gekommen. Demnächst wird der Umbau in Angriff genommen, der das Gebäude zur neuen Heimat des Zürcher Kammerorchesters werden lassen soll.

Michael Eidenbenz