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Basler Zeitung, 30 August 2003

"Give me doubts, give me fears"
Joachim Schloemers Pasticcio "About Kings, Queens and Witches" in Luzern

"E la nave va" heisst das Motto der letzten Spielzeit von Intendantin Barbara Mundel am Luzerner Theater. Eine Anspielung auf Fellinis komischen Film über die Seebestattung einer Operndiva und ein melancholisches Nashorn. Nun ist das Luzerner Theaterschiff noch einmal auf grosse Fahrt gegangen.
Die Spielzeiteröffnung mit Joachim Schloemers barockem Tanz- und Musiktheater "About Kings, Queens und Witches" zur Musik des Engländers Henry Purcell versammelte geradezu exemplarisch die Vorzüge des Luzerner Modells: Offenheit für neue Theaterformen, spartenübergreifende Arbeit. Die Fähigkeit, den nomadischen Produktivkräften des Theaters kreativen Unterschlupf zu gewähren. Und - nicht zuletzt - hohe musikalische Qualität, die den Vergleich mit grösseren Häusern nicht zu scheuen braucht.
Das Basler Barockorchester "La Cetra" unter Leitung des Dirigenten Attilio Cremonesi musiziert federnd, mit markanten Basstönen und schillernden Klangfarben. Die Sängerinnen Jennifer Davison, Violetta Radomirska und Tanja Ariane Baumgartner finden für Purcells aufmüpfige Hexen und Königinnen sinnliche Töne. Man staunt, wie in Schloemers Tanz- und Musiktheater-Produktion die sichtbare Körperlichkeit des Singens neben der Musikalität des Tanzes eine starke Bühnenwirksamkeit erlangt.
Nach "La guerra d'Amore" und "Les larmes du ciel" ist dies Schloemers dritter Barockabend für Tänzer und Sänger. Der Choreograf und Regisseur Schloemer hat damit ein eigenes Genre geschaffen. Aus der Barockmusik filtert er die Theatralik und die bühnentauglichen Affekte heraus. Mit den Mitteln des Tanztheaters katapultiert er die Stimmungen und Gefühle durch eine Art Zeittunnel in die Gegenwart. Der Tanz ist absolut zeitgenössisch. Ein festlicher, hüftschwingender Rave zum "Welcome Song" von 1680 - wann gabs das schon?
Die Musik des "Orpheus Britannicus" Henry Purcell hat es in sich. Sie vermittelt Leidenschaft, Radikalität in der Harmonik, ein inneres Brennen. Purcell starb mit nur 36 Jahren und hinterliess mehr als siebzig Semioperas und Hunderte von Songs. Ein nach dem Motto "The very best of" zusammengestelltes Pasticcio bildet die Grundlage, auf der sich die fünf Tänzer und drei Sängerinnen bewegen. Hinzu kommen einige Stücke der Purcell-Zeitgenossen Matthew Locke und John Blow. Königsdramen, Hexenzauber Die Bühne von Gesine Völlm wird von einer schrägen Lichtjalousie beherrscht. Später klappt eine mobile Wand mit der Aufschrift "Flame" auf: Symbol für die Missetat der Hexen in "Dido and Aeneas", die Karthago in Brand setzt. Wie in Purcells Musik steht in den Seelenlandschaften auf der Bühne das Brennen von Liebe und Hass in Opposition zur Kälte, die die Lebenskräfte erstarren lässt. Das in der Shakespeare-Nachfolge auf Magisch-Dämonisches eingestellte Drama der Restaurationszeit hat Spuren hinterlassen. Schloemer geht damit in "About Kings, Queens and Witches" frei assoziativ um. Er gewinnt den martialischen Saufgesängen auf "Old England" politische Brisanz ab. Zur Pause liegt das Land trostlos darnieder. Die Hexen schmieden Ränke. Der König mit seiner Krone aus Glühlämpchen steht verloren hierum. Dass "Musick for a while" die schlimmsten Sorgen vertreiben könnte erweist sich als das ziemlich albtraumhafte Versprechen einer dämonischen Riesin. Die festliche Ausgelassenheit mutiert zur Rohheit. Patriotische Poeten werden von kichernden Rachegöttinnen mit Fusstritten malträtiert.
"We the spirits of the air", wird da gesungen. Man könnte in einer Flughafen-Lounge sein. Rucksackträgerinnen beissen in Sandwiches, trinken Wasser aus Plastikflaschen oder aus dem magisch blau angeleuchteten Trinkwasserspender im Hintergrund. Zum tieftraurigen Klagegesang werden einer Sängerin die Stiefel geklaut. Die Aktionen sind zugleich komisch und gemein. Mit Nummern versehene Kandidaten treten zum Probeschreien an. Sie heissen Wilhelmine, Horst und Heidrun. Am ekstatischsten schreit Helga. "Give me doubts, give me fears, give me jealousies and cares" - kein Popsong könnte das ewig menschliche Problem besser benennen. Schloemer sucht den Kontrast. Zu Heavy-Metal-Klängen zucken die Tänzer wie unter Strom.
Schloemers Bewegungssprache ist vielfältiger geworden. Der Ausdruckstanz kommt darin nur noch am Rande vor. Es überwiegen die fragmentierten Gesten und schnellen Drehungen, die von der Tänzerin Jasna Vino im Solo gegen Schluss grazil und federleicht ausgetanzt werden. Der zweite Teil des Abends scheint in der Bewegungsdramaturgie insgesamt lockerer und weniger stringent gefügt. Und wie immer bei Schloemer fehlt es nicht an Hermetischem und Rätselhaftem. Doch die Kraft der Bilder, die Dialoge der Sängerinnen und Tänzerinnen sind von berührender Intensität.

Martina Wohlthat