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Neue Ruhr Zeitung, 29 October 2001

Zeitstrom unter Hochspannung
Joachim Schloemers "15'' - in fifteen seconds" beim Folkwang Fest der Künste uraufgeführt: Ein rasendes Stück über Getriebene und Antriebe. Langer Beifall im Choreographischen Zentrum NRW.

Ihre Zeit ist gezählt: Drei, zwei, eins, null - die Gitarren heulen. Die 25 Tänzer auf der großen, kargen Bühne legen zu einem explosiven Musikgemisch los, als blieben keine 100 Minuten mehr, um die Zeit festzuhalten, sie zum Laufen zu bringen, gar rennen zu lassen. Erschöpft und atemlos stehen sie am Ende vor dem Publikum, das auch einigermaßen gefordert ist: "15'' - in fifteen seconds" hat Joachim Schloemer seinen kraftvoll-rasanten, mit der Stoppuhr fixierten Abend betitelt, der beim Folkwangfest der Künste "Tanz" im Choreographischen Zentrum NRW uraufgeführt wurde.
Als diesjähriger Gaststar des Hochschul-Festes hat Schloemer, Folkwang-Absolvent und zuletzt Direktor des Tanztheaters Basel, die zum Fest-Konzept gehörende Aufgabe übernommen, Profis und Studierende gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Die erste Idee, einen Strawinsky-Abend zu choreographieren, wurde im Laufe der Zeit verworfen, und so präsentiert Schloemer mit dem neuen Thema eine bemerkenswert homogene Gruppe - auf Zeit.
Das Leben wird da auf den von musikalischen Brüchen und harten szenischen Schnitten unterteilten Zeitstrom untersucht. Da gibt es Momente, die ganz anachronistisch mit einem Stück Kreide eingekreist werden. Dann fällt von oben ein kühner Lichtstrahl auf die einzelnen Tänzen, die nur zaghaft die Beziehung zueinander suchen, bevor sie sich zu barocken Klängen begegnen und wieder aus dem Karree lösen, bis ein schmerzhaftes elektronisches Fiepen die Stimmung auflöst. Neonlicht flackert. Das Hasten, das Eilen der im Gleichschritt marschierenden Individuen geht weiter auf der von Jens Kilian eingerichteten Bühne, die eine kühn nach vorn gezogene Spanplatten-Decke überzieht, als blicke man in einen UBahn-Schacht.
So kühl das Ambiente, findet Schloemer auch Bilder mit Poesie und Witz. Herrlich kitschig lässt er die große Revue-Schlange entlang der Wand paradieren, winken, weinen, bis die nächste Unterbrechung folgt und die Tänzer, wie von Ersatzbänken abberufen, in das Spiel auf Zeit neu einsteigen. Symbolisch durchwirkt und dann wieder kraftvoll und akrobatisch Schloemers Bildsprache: Einer von Vogelzwitschern begleiteten Gratwanderung über Menschen-Gebirgs-Rücken folgt das Aufblasen von Luftballons. Und wie in einer tänzerischen Versuchsreihe boykottieren szenische Kontraste den großen erzählerischen Bogen, dürfen Zeit-Sprünge irritieren wie die musikalische Konfrontation von "Megadeath" und Musorgskij, Wolfgang Rihm und den "Carpenters". Innehalten und beschleunigen, das ist der Antrieb der Gruppe, bis sie am Ende durch den Raum jagt, die Diagonalen mit weit ausholenden Bewegungen durchquert: Getriebene, nur nicht stehen bleiben, bis die Zeit rum ist. Das Publikum zeigte sich begeistert, bisweilen auch irritiert. Langer Applaus.

Martina Schürmann