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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1 November 2001

Nach der Uhr, oder wie? Nach Gefühl
Ein Tänzer hat das im Gefühl: Joachim Schloemer stopft im Choreographischen Zentrum Essen vier harte Eier in fünfzehn Sekunden

Warum sollte ein Raum, in dem man (Tanz)Theater produziert, nicht aussehen wie eine hochmoderne Fabrikhalle? Die Bühne des Theaterraums im Choreographischen Zentrum in Essen ist von Jens Kilian hergerichtet, als wolle man dort Computer herstellen oder Flugzeuge warten: eine helle, offene Halle mit zahlreichen Lichtschächten in der in die Rückwand übergehenden gebogenen Decke; an den Seiten dunkle, schwere Beleuchtungsarmaturen. Aus dem Hintergrund schreiten zwei identisch gekleidete Männer auf das Publikum zu. Sie bauen sich nebeneinander auf und beginnen mit Flüsterstimmen zu zählen: fifteen, fourteen, thirteen...
Das erste Tanzstück des Choreographen Joachim Schloemer seit seinem Auszug aus dem Basler Theater, das im Rahmen des "Folkwang-Festes der Künste" an die Stätte seiner Ausbildung zurückbringt, trägt den Titel "15 - in fifteen seconds" Doch auch wenn im Verlauf des Stücks eine junge Frau von Karten, die ihr die Partner reichen, abliest, was man in fünfzehn Sekunden alles tun könnte - "Vier gekochte Eier essen", "Mich neu in meinen Mann verlieben" -, wäre der Gedanke abwegig, daß jede Sequenz des Achzigminutenstücks exakt fünfzehn Sekunden dauerte. Zwar ist Schloemers Stück ausgesprochen streng und geometrisch, fast mathematisch organisiert, und so ist man gelegentlich versucht, die Zeit mitzustoppen, wenn sich auf einem von Kreidestrichen und Licht markierten Quadrat in der Bühnenmitte die Tänzer bei kleinen, vorwiegend mit weit ausholenden Armen und weit ausschreitenden Beinen getanzten Soli ablösen. Aber rasch merkt man, daß die meisten dieser solistischen Aktionen in fünfzehn Sekunden nicht zu bewältigen sind. Ohnehin sind die einzelnen Aktionen und Sequenzen des Stücks nur selten scharf voneinander separiert. Soli Kleingruppen und Ensembles, die sich in lockerer Folge ablösen, letztlich aber zu einem großen Crescendo steigern, sind so ineinander montiert, daß sie sich überschneiden und überlappen; wie in den frühen Stücken von Schloemers Lehrerin Pina Bausch geschieht vieles gleichzeitig.
Für eine Freie Produktion betreibt "15 - in fifteen seconds" einen gewaltigen Aufwand. Auf dem Besetzungszettel stehen Namen von 26 Darstellern, die Schloemer und sein Ausstatter Kilian absolut einheitlich gekleidet haben in strenges Schwarzweiß: schwarze Hosenanzüge mit weißen Hemden darunter, die Füße fast über die ganze Distanz ohne Schuhe und Strümpfe; erst zum Finale zieht das komplette Ensemble auf offener Szene sportliches Schuhwerk an. Die Jacketts legt man ab zu bestimmten Übungen, ohne daß klar würde, warum das geschieht; daran, daß man mehr Bewegungsfreiheit brauchte, kann es nicht liegen. Akustisch liegt zeitweise ein leiser Teppich aus Flüsterstimmen über dem Stück. Dann wieder unterlegt Schloemer das Geschehen mit alter Musik, macht ihm mit Heavy-Metal-Rhythmen Beine oder läßt es zu "Sacre"-Ostinati herumtoben.
Gleich zu Beginn schickt der Choreograph zwei Dutzend Tänzer in ein großes wuchtiges Ensemble, und wenn die Ensembles aufs Ganze gesehen auch nur den geringeren Teil der Aufführungsdauer beanspruchen, so sind sie es doch, die dem Stück Spannung und Kraft verleihen. Schloemer läßt sich für die Ensembles einiges einfallen. Er choreographiert Stampftänze, bei denen die Darsteller über den ganzen Raum verteilt sind. Er jagt die Tänzer im Laufschritt quer durch den Raum, führt sie in scheinbar endloser Reihe mit lockeren Revueschritten an der Rückwand entlang und um sie herum. Er formt sie zu Blöcken und dreieckigen Haufen oder läßt sie eine bewegte Treppe bilden, über die eine einzelne Frau aufsteigt und von der sie durch den Raum getragen wird.
Dazwischen streut er viele kleine solistische Aktionen. Häufig ziehen die Tänzer Kreidelinien über den schwarzen Tanzteppich, malen kleine oder größere Kreidekreuze auf den Boden.
Doch beschränkt sich, was immer geschieht, auf abstrakte, fast mechanische Abläufe. Nur wenige Szenen enthalten persönliche, private Gefühle, und zwischenmenschliche Beziehungen finden so gut wie nicht statt. Einmal lehnt für eine kurze Zeit ein Paar aneinangergeschmiegt an der Rückwand. Ein andermal wandert eine Frau wie suchend durch den Raum und malt Kreidekreuze auf den Boden und starrt gen Himmel, als erwarte sie von dort eine Erleuchtung. Wenn die Tänzerin die bewegliche Treppe aus Körpern, die sie durch den Raum getragen hat, wieder herabsteigt, wird sie von einem Mann aufgefangen und für eine Weile schützend auf dem Arm getragen. Doch im Grunde bewegen sich die Körper wie die Figuren eines Computerspiels: beweglich und ohne Emotionen. Das macht die Stärke von "15 - in fifteen seconds" aus. Aber auch seine Schwäche.

Joachim Schmidt