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Ticket, 2. Februar 2012

"Es geht um die Zeit"
Joachim Schloemer inszeniert Elfriede Jelineks "Winterreise".

Seit Elfriede Jelineks Drama "Wintereise" vor gut einem Jahr in München uraufgeführt wurde, haben sich die Theater auf dieses Werk gestürzt. Für Joachim Schloemer, dessen Inszenierung der "Winterreise" jetzt Premiere hat, ist es das zweite Stück der Nobelpreisträgerin, das er fürs Theater Freiburg auf die Bühne bringt. Annette Hoffmann sprach mit Schloemer über Jelineks "Winterreise".

Ticket: Elfriede Jelineks "Winterreise" wird als persönlichstes Werk der Autorin bezeichnet. Was ist das Persönliche an diesem Werk?

Joachim Schloemer: In der "Winterreise" redet sie zum ersten Mal konkret über ihren Vater, der an Demenz erkrankte. Der Text des Vaters umfasst mehr als die Hälfte unserer Fassung des Abends. Ich konzentriere mich in meiner Inszenierung ganz auf die Tochter, die Mutter und den Vater. Jelinek beschreibt, wie ein Mensch die Zeit verliert, weil ihm mehr und mehr die Möglichkeit abhandenkommt, sich in Verhältnis zu seiner eigenen Vergangenheit oder zu einer möglichen Zukunft zu setzen, und wie er dadurch gezwungen wird, das Jetzt als einzig mögliche Realität wahrzunehmen. Er gerät in einen Strudel, dessen Wellenbewegungen weggenommen werden, bis er nur noch der eine Punkt ist, von dem es nur nach innen, zum eigenen Zentrum gehen kann. Das Wesentliche ist das Erleben des Moments. Gäbe es nicht immer wieder ein Erwachen aus diesem Zustand, könnte man ihn als göttlich bezeichnen. Aber wie wir ja wissen, ist das nicht so. Die tiefe Trauer, Wut, Sehnsucht nach Liebe und Verzweiflung sind immer noch da. Kein Entkommen. Dass Jelinek sich trotz allem nicht scheut, ihr eigenes Versagen gegenüber der Krankheit ihres Vaters auszudrücken, ist hoch anzurechnen.

Man kennt Elfriede Jelinek kalauernd, sehr ironisch. Ihr Vater erkrankte Mitte der 1950er Jahre und starb 1969 in der Psychiatrie, in die er Jahre zuvor eingewiesen wurde. Schlägt sie in dem Part über ihren Vater einen anderen Ton an?

Man merkt, dass sie versucht, nicht einen anderen Ton anzuschlagen wie sie es üblicherweise tut. Sie leugnet ihr Versagen nicht und auch nicht ihre Schuld, die sie sowieso nicht tilgen kann, indem sie dieses Stück schreibt. Ihr Stück ist eine Wanderung in ihrem ihr eigenen Ton, nur diesmal geht sie in ihre eigene Wohnung und kehrt in der letzten Ecke alles raus, was nach Jahren noch herumliegen könnte. Wie so oft wird aus der einfachen Wanderung bald unwegsames Gelände, bis man plötzlich mitten an einer Felswand hängt und weder sie noch der Leser wissen, wie man da wieder runterkommt.

Welche Bedeutung hat denn Franz Schuberts Liederzyklus nach Wilhelm Müllers Gedichten für Jelineks Winterreise?

Die "Winterreise" ist ihre "Winterreise", so wie sie für Wilhelm Müller seine Winterreise war. Sie schreibt den Text, als ihr Vater gut 40 Jahre tot ist. Wilhelm Müller hat seinen Gedichtzyklus geschrieben, 20 Jahre nachdem er unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde und in der Folge zurück durch Deutschland nach Hause wanderte. Auch wenn es scheinbar keine Parallelitäten gibt, sind die Zusammenhänge in Bezug auf das Fremdsein im eigenen Land unübersehbar. Beide sind Aufarbeitungen des eigenen Verhältnisses zur Heimat und somit auch zur Familie. "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus" – dieser Satz hat viel mit unserem Tod zu tun, mit der Frage, was auf unserer Reise passiert. Es gibt in Jelineks Text eine ungeheure innere Bewegung. Es ist erstaunlich, dass sie diesen Weg geht. Es gehört eine Menge Mut dazu, sich in dieser Gnadenlosigkeit in der Öffentlichkeit zu entblößen.

Die "Winterreise" besteht aus acht Textblöcken, die in Abschnitte unterteilt sind, aber keine Angaben darüber machen, was auf der Bühne zu sehen ist oder wer spricht. Wie gehen Sie als Regisseur mit einer solchen Textfläche um?

Johan Simons hat in den Münchner Kammerspielen jedem der Schauspieler einen solchen Textblock zugeordnet. Andere Regisseure führen Elfriede Jelinek als Bühnenfigur ein. In meiner Inszenierung wird es keine Personifizierungen geben, denn auch der Text soll von Schauspieler zu Schauspieler wandern. Mir geht es bei diesem Abend um die Zeit, es ist die Zeit, an der sich alles misst.