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Rhein-Neckar-Zeitung, 29. April 2013

Auf der anderen Seite dieser Welt steht alles Kopf

[...] Mit den fabelhaften Sängerinnen und Sängern der Schwetzinger Produktion sowie dem Ensemble "Le Concert Spirituel" unter der Leitung von Hervé Niquet wird der Geist dieser Musik im Rokokotheater auf betörende Weise lebendig - und dies auch über alle Längen der Textpassagen hinweg, die Regisseur Joachim Schloemer dem Werk beigibt. Trotzdem gelingt es ihm, der barocken Grundkonzeption dieses "totalen Theaters" mit Schauspiel, Musik, Tanz und vielen anderen Elementen neue Vitalität einzuhauchen. Vor allem die Raumkonstruktion der auf dem Kopf stehenden Welt (Bühne: Jens Kilian) macht verblüffende Effekte möglich.
Die Story, die sich Schloemer ausdachte, lässt sich leicht zusammenfassen, aber von was sie wirklich erzählt, ist schwer zu sagen: Drei Menschen (die Schauspieler Anna Tenta, Vincent Leittersdorf und Pascal Lalo) sacken in ein tiefes Loch und kommen auf der anderen Seite der Erdkugel wieder heraus. Sie fallen in einen Raum, der auf dem Kopf steht, und sie begegnen Menschen, die ihnen wie Spiegelbilder gleichen, aber an der Decke spazieren gehen. Tatsächlich: Sie laufen in diesem grünen, auf dem Kopf stehenden Salon hin und her, spielen - kopfüber von der Decke hängend - mit einem Ball, trinken aus einer Flasche, öffnen ein Buch, das auf dem Tisch liegt und aus dem ein Blatt zur Decke fliegt, das heißt nach unten fällt. Dann verschwinden sie wieder wie Geister hinter Tapetentüren. Allein diese Effekte machen diese Festspiel-Eröffnung unbedingt sehenswert.
Die beiden Touristen und ihr Reiseführer glauben natürlich, dass sie träumen, während sie Texte von Schloemer, Gabriel Garcia Márquez, Carlos Castaneda und anderen sprechen, die eher frei assoziativ als narrativ in das Stück eingewoben sind. So ist nicht leicht herauszufinden, um was es genau geht in diesem Werk, und doch läuft alles (historisch belegbar) auf die Eroberung dieser exotischen, anderen Welt hinaus: Am Ende unterwirft der Skrupelloseste sich dieses auf dem Kopf stehende Reich, indem er die Konkurrenten um die Macht tötet und die andern unterwirft: Cortes' Auslöschung des Aztekenreichs lag, als Dryden die "Indian Queen" (sowie ein Nachfolgestück zu Montezuma) schrieb, gerade 150 Jahre zurück.
Wer nicht mit der Erwartung nach Schwetzingen kommt, eine komplett durchkomponierte Oper zu hören, sondern das Stück auf sich wirken lässt, das als barockes Mehrspartenprojekt alles nutzt, was Theater ausmacht, wird einen abwechslungs- und ideenreichen Abend erleben, der vor allem durch sagenhafte Bilder in Erinnerung bleibt. Die Musik kommt letztlich auch nicht zu kurz. Schloemer respektiert den Raum, den sie zur Entfaltung braucht und überfrachtet die musikalischen Teile nicht mit Aktionen, während die artistischen und tänzerischen Einlagen für sich ebenso faszinieren. [...]

Matthias Roth