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BZ, 19. Mai 2008

Die Choreographie des Lebens
Verbeugung vor einem Tanz, der mehr ist als Bewegung: Joachim Schloemers Inszenierung "Tango la Queen" im Theater Freiburg

Volver - ein Wort, das lange nachklingt. "Volver" heißt "zurückkehren", und hier, wo Isabella Bartdorff in Gestalt einer alten Frau allein auf der großen Bühne des Freiburger Theaters sitzt, meint "volver" den weitesten Rückweg, den ein Mensch hinter sich bringen kann: vom Tod ins Leben. Sie hat die äußerste Grenzsituation erlebt: den Tod der Tochter und das Verlassenwerden vom Ehemann - und allein der Tanz, der Tango, hat, wie sie erzählt, an ihr das Wunder vollbracht. "Volver" ist der Titel von Pedro Almodovars jüngstem Film, in dem es auch um eine Rückkehr vom (vermeintlichen) Tod ins Leben geht, und der Name eines Liedes, an das sich die Frau erinnert und das sehr melancholisch und sehr poetisch die vom Schnee der Zeit versilberten Schläfen besingt.
Diese schmerzliche Szene am Beginn von "Tango la Queen" mag alle die warnen, die die Ankündigung einer "Tangoshow" buchstäblich nehmen. Der Choreograph und Regisseur Joachim Schloemer, nebenbei auch Kurator des Freiburg-Heidelberger Tanzensembles pvc, ist bekannt dafür, Erwartungen zu unterlaufen. Das Tango-Klischee von glühender Leidenschaft und tragischem Liebesdrama interessiert ihn herzlich wenig. Und also sieht man in seiner endlich vollbrachten ersten großen Produktion für Barbara Mundels Haus eine ganze Zeit lang keinen einzigen Tangoschritt - statt dessen berichten junge Frauen und Männer auf Videoaufnahmen davon, wie sie zum Tango kamen und was er ihnen bedeutet.
Später wird man sie live sehen: Sie sind jene Laientänzer, die vor Monaten für diesen Abend gecastet wurden, aber schon lange dem Tanz verfallen sind, der mehr meint als die Lust an der Bewegung: das Leben selbst. Und man glaubt es schon diesen leuchtenden Gesichtern ablesen zu können, dass der Tango diese existenzielle Kraft besitzt, die auch Schloemer seit Jahren umtreibt - wie zum Beweis sprüht er vor der Vorstellung (Ist er's wirklich? Man muss zweimal hinschauen) als tatteriger Greis "Tango King" auf den eisernen Vorhang.
Die kleinen Geschichten, Schlaglichter, Fragmente, Lebenssplitter setzen sich fort, wenn sich die Bühne, als endlich die Musik einsetzt, zu einem Wohnzimmerguckkasten (Bühne und Kostüme: Jens Kilian) verengt mit Fenster zum Garten.
Von dort kommt ein roter Ball geflogen, ein Kind steigt ihm nach ins Zimmer, eine junge Frau tritt ein mit einem Säugling, ein Mann in rotem Mangel legt ein Paket ins Regal, das ein Dunkelmann an sich bringt: Immer mehr Gestalten füllen den Raum zum Bersten. Dass der slapstickhaften, präzise choreographierten Szenerie der Animationsfilm "Tango" des Polen Zbigniew Rybczynksi zugrunde liegt, erfährt man aus dem Programmheft. Vielleicht muss man es nicht wissen, um zu verstehen, dass hier auf sehr ungewöhnliche Weise der Versuch unternommen wird, die Chronologie eines Lebens zur repetitiven Struktur der Filmmusik in der Wiederholung des Immergleichen aufzulösen - wobei der auf der Drehbühne montierte Kasten auch die Sicht auf ein Draußen freigibt, in dem sich bunte Paare wie zufällig und versuchsweise zu Tango-Figuren zusammenfinden.
[...] im zweiten Teil gibt sich die Regie und mit ihr das großartige Ensemble, in dem man die Profitänzer von pvc kaum von den phantastisch tanzenden "Laien" unterscheiden kann, in den unvermeidlichen rassigen Stilettos und dem Schwarz formaler Strenge rückhaltlos dem Tango hin, den die fabelhaften Musiker Thomas Jeker, Ada Meinrich, Raphael Reber und Tom Schneider zum Helden, ja: zum König des Abends machen. Immer wieder durchbricht die Regie auch hier die vollendet dargebotene "Show": Dass die Tänzer von den ersten beiden Zuschauerreihen aus in stets wechselnden Formationen die Bühne betreten und verlassen, wirkt spielerisch und nimmt dem Tango viel von seinem Pathos. Genau jene Durchblicke auf das ungeordnete, unkontrollierte Jenseits der Bewegung machen diesen Abend zum Ereignis: das gelassene Abtreten der Paare, nachdem sie im Scheinwerferkegel größte Beherrschtheit gezeigt nahen, das schöne Wechselspiel zwischen atemberaubender Intimität im Verschmelzen zweier Körper und ihrer Entfernung voneinander in individuellen Drehfiguren.
Ob es da einer richtig bösen, gemeinen Störung noch bedurft hätte, ist die Frage. Tommy Noonans garstiger Clown mit einer obszönen Pinocchionase macht auf jeden Fall ganze Arbeit. Nicht nur wird an seinem klobigen Schuhwerk jede Tango-Eleganz zuschanden. Er tritt brutal auch jene Wände aus Pappquadern ein, die den Tänzern das schöne Gehäuse für die Demonstration ihres Könnens geliefert haben. Alle Versuche, eine neue Ordnung herzustellen, schlagen fehl - bis so etwas wie das Haus aus Teil eins entstanden ist, in das sich das Ensemble flüchtet, während Noonan dem ballspielenden Kind Su-Mi Jang zu Leibe rückt.
Die verstörende Szene bleibt zum Glück nicht das letzte Wort dieser so anregenden wie betörenden, intelligenten wie sinnlichen Inszenierung. Die Sehnsucht nach dem Tango wird danach nur größer. Beifallsstürme, Rosenwürfe ins Publikum und eine Premierenfeier, auf die viele Damen wohl gern mit Stilettos gegangen wären.

Bettina Schulte