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Neue Zürcher Zeitung, 26. März 2001

Der Tanz, der in die Kälte kam
«Senza Fine» - Joachim Schloemers Abschied von Basel

Eiszeit in Basel. Joachim Schloemer gibt seinen Abschied und führt das Publikum mit seinem neuen Stück «Senza Fine» in den Winter. Genauer: ans winterliche Meer, dorthin, wo derSand hart geworden ist, weil seit Monaten niemand darüber geht, wo die Stühle rosten in den Gärten und einige wenige Menschen im Hotel sich stumm ihrer Sehnsucht ergeben - nach Rimini eben, wie der Untertitel «als Rimini noch schön war» und die von Max Küng und Robert Hermann arrangierte italienische Filmmusik verheissen. Doch dieser Kursaal mit den einsamen Seelen könnte in irgendeinem winterlich verlassenen Badeort stehen.
Das Stück treibt wie eine Eisscholle im Meer: kalt, kompakt, verschlossen. Eben noch herrschte bunte Fröhlichkeit, hat sich ein ganzer Saal voll älterer Menschen im «Liscio» gedreht. Und jetzt stehen da nur noch 16 Paar Schuhe, sirrt die Einsamkeit durch den blauen abgetakelten Kursaal von Jens Kilian, fällt fahl das Licht auf diesen Tanz von Jasna Vinovrski, die den Arm ausstreckt, die Hand, den Daumen bewegt, lange in der Pose verharrt wie ihre fünf Mit-Wintermenschen auch. Ein Tanz, karg, verhalten, langsam, wie wir das vom Tanztheater Basel nun seit fünf Jahren kennen. Es ist dies ein Tanz, der das Ballett gewohnte Publikum gespalten hat - und offenbar noch immer spaltet, wie an der Premiere am Freitag zu hören war -, weil er sich der gängigen Ästhetik verweigert, nicht schöner Tanz ist, aber eben auch nicht hässlich, nicht Körperexperiment, sondern einfach sperrig - ein Tanz, der mit seiner hermetischen Bildlichkeit hohe Ansprüche an die Geduld der Zuschauerinnen und Zuschauer stellt.
Joachim Schloemer lässt sich Zeit, bis er ihn aufbricht. Vincent Crowley legt mal zu «Mambo Italiana» kurz einen Step hin, um gleich wieder zu vereisen, und man fragt sich schon, ob wohl das Basler Tanztheater bereits drastisch geschrumpft ist, als im Hintergrund die bekannten Gesichter von Graham Smith, Fabio Pink, Norbert Steinwarz und anderen auftauchen. Der Himmel tut sich auf, und dunkel wird die Welt: Im Schneegestöber steht eine merkwürdige Gruppe von Boxern, Gewichthebern und anderen ausrangierten Sportlern. Später brechen sie als Clowns ein in die kalten Szenen, das Eis aber schmilzt nicht, sondern bricht auseinander wie dieses Stück, das plötzlich in viele kleine Geschichten zerbröckelt, die in alle Richtungen laufen. Vor einem riesigen Schiff tanzt ein Frau zum Gesang der Callas, während sich einige eine Schlägerei liefern. Sabrina lässt in der Disco ihre «Boys» raus, und ein Popsänger gibt die Schritte vor. Und immer wieder wollen einige ihre Kunststückchen vorführen, welche die andern sogleich vereiteln. Hier zeigt sich denn auch, wie vielseitig dieses Ensemble ist: Jongleure, Schlangenmenschen, Stepper - Tänzer, die plötzlich aus der Langsamkeit ausbrechen, die Stufen hinunterpurzeln in schwindelerregendem Tempo oder Slapsticks zum Besten geben, von denen einige etwas überdreht wirken. Dies mag auch eine Reaktion sein auf die Kälte, die ausserhalb dieses Badeorts herrscht: im Grossen Haus des Theaters Basel, wo das Premierepublikum kaum zu einem Lacher zu bewegen ist.
Man hat zwar den Hang zur einsamen Übertreibung auch schon in früheren Stücken Joachim Schloemers beobachten können. 1996 kam der 1962 geborene deutsche Choreograph nach Basel, mit tieftraurigen Stücken im Gepäck wie auch im Kopf. Was immer da auf den verschiedenen Bühnen getanzt wurde, der Tod tanzte mit. In der Folge begann Joachim Schloemer mehr und mehr mit Komik zu experimentieren - doch zeigte er in den humorvollen Sequenzen nicht jene stilsichere Hand, die seine ernsthaften Werke kennzeichnet. Es schien zuweilen, als könnte sich der Schloemer'sche Humor nicht so recht mit der Schloemer'schen Melancholie versöhnen und müsste darum in rebellischem Übermut Selbstbehauptung üben. In «Senza Fine» indessen treffen sich die beiden Seiten mehr als in all seinen Basler Stücken. Melancholiker und Ulknudeln tanzen lange getrennte Wege und finden sich zum Schluss des dreistündigen Werks, das noch einmal die Stärken seines Autors offenbart: einen ausgeprägten Sinn für zauberhafte Bilder, die aus einer ganz anderen Welt in die karge Bewegungssprache scheinen, und eine Musikalität, die ihr nur scheinbar widerspricht.
Für «Senza Fine» haben Max Küng und Robert Hermann italienische Filme und Jukeboxes geplündert, haben die Schnulzen durchsetzt mit Vivaldi, Messiaen, Pierre Henry, zuweilen ist nur ein Pfeifen zu hören, donnert ein Flugzeug über die Köpfe. Eher selten hat Joachim Schloemer mit Collagen gearbeitet, darin unterscheidet er sich von seinen Kolleginnen und Kollegen des deutschen Tanztheaters: Immer wieder hat er sich integral gespielten Kompositionen gestellt und auch sperrige Musikwerke auf die Bühne gebracht wie beispielsweise Iannis Xenakis' «Kraanerg». Er hat mit vielen verschiedenen Musikstilen und gänzlich unterschiedlichen Musikern gearbeitet, zum Beispiel mit der Klezmerband Kol Simcha für «may day» oder mit René Jacobs, mit dem er die berühmt gewordene Tanzoper «La guerra d'Amore» inszenierte. Und er hat von Anfang an die Sparten am Theater Basel überschritten, hat Schauspieler und Sänger in seine Stücke integriert und es verstanden, deren Kunst mit jener seiner Tänzer zu verweben.
Aber das Eis hat er nicht zu schmelzen vermocht. Vor ihm war das Basler Ballett, das wurde abgeschafft, und das haben die Ballettfreunde ihm und Michael Schindhelm nicht verziehen. Am Freitag wurde denn auch noch einmal so richtig aus voller Lunge gebuht. Als der Choreograph zum Applaus antrat, stellten sich gediegen gekleidete Damen und Herren auf die Hinterbeine, hielten die Hände um den Mund und legten los - als wären sie nur dafür ins Theater gekommen. Solche Szenen werfen ein seltsames Licht auf die Stadt. Man kann diesen Tanz mögen oder auch nicht, die Qualität kann man ihm schlecht absprechen. Anderswo hat man das längst erkannt: Am Wiener Burgtheater inszeniert Joachim Schloemer ein Artaud-Projekt, in San Francisco wird er «La guerra d'Amore» einstudieren, in Luzern ebenfalls einen Monteverdi erarbeiten, und in Berlin bemüht sich Gerhard Brunner um eine Zusammenarbeit mit ihm. Joachim Schloemer aber will vorläufig in Basel wohnen bleiben. Eiszeit hin oder her. [...]

Lilo Weber