Foto

Süddeutsche Zeitung, 18. März 1992

Geschlossene Gesellschaft
"Schwarzwälderkirsch" von Joachim Schloemer in Ulm

Der Pianist hämmert aggressiv seine Akkorde in die Tasten, schleudert heftig die nicht mehr gebrauchten Notenblätter von sich. John Cages "Four Walls" sprechen eine sehr deutliche Sprache in einem Szenario schwelender Gewalt. "Schwarzwälderkirsch" nennt Joachim Schloemer anheimelnd sein zweites Stück für das Ulmer Ballett. [...]
In einen aseptisch weißgekachelten Raum gruppiert Schloemer zwölf Männer und Frauen, zunächst aufgereiht mit dem Rücken zum Publikum, dann zu zweien zu dreien im Raum. Ein Kruzifix in der Ecke deutet den letzten Rest von Wohnstubengemütlichkeit an: Eine Familienszene. In mählichem Crescendo verschränken sich die Episoden, wie sie sich in bürgerlichen Wohnungen abspielen mögen, Szenen der Gewalt und der Repression, verschmähter Liebe und unterdrückter Aggression. Da ist die putzwütige Mama, die ihrem erwachsenen Sohn ein ums andere Mal den Anzugkragen glättet, bis dieser sie entnervt vom Podest stürzt; da reitet das Töchterlein vergnügt auf Papas Schoß, bis dieser sie brutal vergewaltigt; da bettelt ein Mädchen mit Teddy im Arm um die Aufmerksamkeit ihrer eiskalt mondänen Mutter. Und schließlich stürzt sich die Meute mordlüstern auf ein schwules Paar.
Joachim Schloemer hat seine Lektionen von Pina Bausch gelernt, baut Spannung auf durch gezielte Wiederholung szenischer Elemente, setzt geschickt Zäsuren durch Licht und Musik. Nur: sein "Schwarzwälderkirsch" ist durchchoreographiert, ein Wechselbad zarter und rüder Bewegungsschübe, im besten Falle so ausgetüftelt, daß sie sich aus der vorgegebenen Situation entwickeln und den jeweiligen psychischen Zustand der Akteure spiegeln. Aus den Sprüngen des "Himmel-und Hölle"-Spieles beispielsweise entwickelt er die komplexen Schrittfolgen des Mädchens mit dem Teddy.
Natürlich gibt es in diesem Stück auch Durchhänger. Aber just in den Momenten, da eine Situation zu ermüden beginnt, fällt dem Choreographen eine überraschende, bisweilen komische Wende ein: Schwups reißt er den Mantel auf, der lüsterne Exhibitionist - und zieht ihn dann verschämt über den Kopf. Nicht nur er hat nicht damit gerechnet, daß das Objekt seiner Lust, die Kleine mit dem Teddy, sich derart unverblümt neugierig sein Schaustück begucken würde.
Es gibt die Vision von Zärtlichkeit in "Schwarzwälderkirsch", aber kein Entrinnen für die geschlossene Gesellschaft. Die Flucht über eine Feuerleiter muß mißlingen. Sie alle bleiben gefangen in ihren Obsessionen: Mama wienert sogar dem Exhibionisten die Hand, bevor sich das restliche Licht auf dem Pianisten fokussiert, der das letzte Wort hat nach knapp sechzig Minuten Familiendrama.
Gewiß ist das Thema nicht neu, das Schloemer sich für sein Tanztheater gewählt hat, und ebensowenig sind es die Mittel. Doch das "Wie" läßt auf sein Gespür für Menschen und ihre, oft genug bedrückenden Befindlichkeiten schließen. Dem, was er zu sagen hat, hört und sieht man aufmerksam zu, auch weil er sich auf ein hochbegabtes Tänzerensemble stützen kann. Da will man wissen, was in Zukunft noch kommt.

Eva-Elisabeth Fischer