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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. Oktober 2007

Wenn Furien wirklich Furien werden
Hier muss was Neues kommen: Glucks "Orfeo ed Euridice" im Konzerthaus Berlin

Hier kommt was Neues, rief 1762 Gluck, ruft 245 Jahre später Zagrosek, hier muss was Neues kommen. Und fängt die Ouvertüre rasend an. Um Ausdruck geht es, um Leidenschaft, Auflehnung, Verlust. So feuert das Konzerthausorchester Berlin. Weil in einer "azione teatrale" ein Orchester nicht versteckt sein darf, wird auch der Instrumentalist zum Träger der Handlung.

Die Oper knüpft an, wo sie anfing, und weist zugleich über das, was sie gewesen, hinaus. Man tut die Illusionen in den Kopf zurück. Das hat etwas von Brecht. Weil aber die musikalische Gestalt so schön ist, bleibt uns das Moralin erspart. Wobei die Kürze der Probenzeit, vier Tage, die Szene nah am Improvisierten und dadurch lebendig hält. [...] Mascha Mazur hat eine multifunktionale Kaaba hingestellt, deren Vorderseite und Deckel, der zugleich Spielfeld ist, sich öffnen können. Mit den einfachsten Videomitteln führt sie eine poetische Höllenfahrt vor: poetisch, weil das so einfach gemacht ist, weil man sich nur einlassen muss, um das auch jenseits budgetgieriger Operntechnik ergreifend zu finden.

Dass Joachim Schloemers Regie dabei aufs Off-Theater zurückgreift, um sie dem bürgerlichen Publikum vorzuführen, ist nur konsequent. Manches lässt an die Unternehmen der jungen Opernbühne Berlin denken. Da bliesen so einige Böen durch die gedeckten Abendgarderoben. Und siehe, dankbar waren die. Die gleiche Frische durchblies die Musik, die, permanent von Lothar Zagroseks Feuer angeheizt, sich durchaus nicht scheute, mal manieriert zu sein; dann wieder kippte die Klangbalance von Chor zu Solisten expressiv um, und Furien wurden wirklich Furien. Die jagten einem durchs Ohr in den Schädel, so dass es ihn brauchte, den Orpheusgesang, sie schläfrig zu stimmen.

Selbst dass Sunhae Ims wirklich engelhafter Sopran bisweilen ein wenig leicht war, diente hier der Szene, die jeden Solisten in den Geist eines antiken Chores zurücknimmt: auch ein Orfeo spricht kollektiv. Deshalb bekam der Klang dieser Inszenierung bisweilen etwas Requiemhaftes, das dem verzweifelten Einspruch, den das Leben gegen den Tod erhebt, völlig entspricht. Es ist eine enorme Leistung dieser, wie Zagrosek selbst sie nennt, szenischen Erzählung, gegen das Happy End der Oper an einer Trauer festzuhalten, die schon seinerzeit der Hof nicht wollte. Allein sie ist menschlich und erschüttert. [...]

Alban Nikolai Herbst