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Information Szene 820, 2. November 1996

Spannung - nicht die des Krimis, der Sports oder des Zirkus
Vom "vielen Anfang" am Theater Basel der einzig echte: Joachim Schloemers TanzTheater

Die Spannung war natürlich gross: wie reagiert ein Publikum, dem seit Monaten eingeredet worden ist, das liebe gute alte Ballett werde vom bösen Tanztheater verdrängt? Es brach in Beifall aus, den die unüberhörbaren Buhrufe nicht wirklich zu beeinträchtigen vermochte. Dabei ist Neuschnee in Troja nun nicht gerade eine Produktion, die dazu prädestiniert ist, ein auf klassich-romantische Effekte getrimmtes Publikum von den Sitzen zu reissen. Umso höher ist der Erfolg Joachim Schloemers und seiner Truppe einzuschätzen.

Der erste Teil des Abends zu Galinska Ustwolskajas Komposition Oktett für zwei Oboen, vier Violinen, Pauken und Klavier trage die szenische Bezeichnung «Wald» (der Schutz, das Versteck, der Weg, durch den Wald, das Hindernis), der zweite «freies Feld» (Schlammige, von Menschen und Pferden zerfurchte Landschaft mit den Begriffen Formieren, Aufbruch, Schlacht, Sieg und Niederlage, Verlust, Heimkehr, erneute Schlacht), heisst es im Programmheft zu Neuschnee in Troja. Ich gebe offen zu, dass mich solche Erklärungen stören: ich will nicht gesagt bekommen, was die Theatermacher meinen, ich will es erleben. Darum nämlich heisst das Theater Theater und nicht Vorlesung oder Vortrag. Es hat sich mit den Mitteln auszudrücken, die die des Theaters sind. Wenn ich dann die paar an Fäden vom Schürboden herabhängenden Baumstammkrüppel als Allee assoziiere statt als Wald, mag das an meiner unter- oder überentwickelten Phantasie liegen - oder an den Ausdrucksfähigkeiten den Theaterleute: spielt es eine Rolle? Sind die Beziehungen zwischen Menschen, wie sie hier gespielt werden, weniger beziehend, sind die Spannungen, die zwischen ihnen bestehen, weniger spannend, wenn ich mich statt in «Wald» eben in «Allee» sehe?

Mich: vielleicht macht es das Tanztheater ganz besonders spannend, dass es mit Bewegungformen auskommt, die die Bewegungsformen wenn nicht aller, so doch die vieler sind? Die künstlichen Bewegungsstereotypen des Balletts (die ich keineswegs verachte) sind nicht meine - vielleicht gefallen sie mir deshalb, vielleicht kann ich sie deshalb geniessen: zu erleben vermochte ich sie eigentlich nur dann, wenn sie verfremdet eingesetzt wurden, wenn die balletteigenen Formen nur noch Formen und nicht mehr Selbstzweck waren. Bitte, ja: wenn das Ballett zum Tanztheater wurde!

So habe ich übrigens auch einen Zugang zum Flamenco gefunden, obwohl ich mit Folklore nichts anfangen kann: über die Produktionen der Truppe Flamencos en route, die Susana mit dem Mitteln des Flamenco choreographiert hat. Die von ihr so entwickelte ist eine Tanzsprache, Schloemer «redet» in einer anderen - und dass z.B. Youri Vamos keine hatte, sindern bloss stammelte, hat dem Ballett in Basel mehr geschadet als jede Subventionskürzung.

Zurück zum Neuschnee in Troja, wobei ich mir jede Bemerkung über den Titel verkneife: einfach nur «Tanztheater», meinetwegen in der manirierten "TanzTheater"-Schreibweise, hätte genügt. Geschneit hat es jedenfalls nicht, und die weissen Tücher, die im zweiten Teil des Abends - auf der natürlich topf- oder gar ballettebenen Bühne - so vielfältig verwendet werden, können eigentlich damit nicht gemeint sein, das wäre zu plump. Und plump ist der Umgang der Tänzerinnen und Tänzer mit dem wenigen Material, das sie neben sich selbst einsetzen, nun ganz gewiss nicht. Die harten Tuchschläge in Beethovens Symphoniemusik hinein sind alles andere als werktreu - aber die Präzision, mit der sie kommen, verrät eine Musikalität des Choreographen und der Ausführenden, die noch viel schärfere Eingriffe erlaubte. Warum denn eigentlich soll in einem solchen Fall Musik nicht weniger Material sein als der Körper der Tanzenden? Sie strapazieren ihre Körper, aber sie respektieren sie - und wenn sie die Musik strapazieren, lassen sie nicht weniger Respekt spüren.

Ganz abgesehen davon: Russell Harris musiziert mit dem Radio-Sinfonieorchester Basel, das viele nicht weniger unterschätzen als die Ballett-Maniaks das Tanztheater, auf eine Weise, die den drohenden Verlust dieses Klangkörpers (diesmal spart nicht Basel, sondern Radio DRS - aber nicht an einem weniger falschen Ort) noch schlimmer macht.

Die Produktion ist, ich wiederhole mich, nicht dazu prädestiniert, ein auf klassisch-romantische Ballett-Effekte getrimmtes Publikum von den Sitzen zu reissen. Ich würde mich deshalb nicht wundern, wenn die einen oder anderen eine gewisse Langeweile konstatierten. Die Frage ist nur, ob die Produktion langweilt oder ob nicht eher diejenigen, die sich darob beklagen, sich langweilen. Denn, das steht ausser Zweifel: Tanztheater, das TanzTheater Joachim Schloemers ebenfalls, muss auch aus der Publikumsperspektive «gelernt» werden. Es schmeisst nicht mit Pirouetten um sich, posiert nicht mit abgedrehten Füssen - aber heisst das, dass seine Sprünge weniger artistisch seien oder die Körper weniger ausdrücken könnten?

Die Spannung in Neuschnee in Troja ist nicht die des Kriminalromans oder des Zirkus oder des Sports.

Zum Glück.

Hansueli W. Moser-Ehinger