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Musik&Theater, 12/2004

Aufhören als Lebenskunst
Gelungene Uraufführung von Joachim Schloemers «Morton, Morton, Morton» in Zürich

Die Lichttechnik versagte bei der Premiere von «Morton, Morton, Morton» im Theater am Neumarkt in Zürich. Die Zweitaufführung von Joachim Schloemers Morton-Feldman-Hommage aber hört unaufhörlich auf.
Was immer von unserer Welt zu halten ist, sie ist stark. Bullen und Bären bestimmen die Börse, starke Frauen und Trends sind im Kommen, Berlusconi-Blocher ist gewiss eine starke Verbindung, und das Zürcher Theater am Neumarkt unter neuer Leitung begann mit Walzenstärke, dass Lessing ganz platt war. Demnächst zeigt es politische Muskeln mit einer «Schweizer Fleischbeschau» zur Einbürgerungsabstimmung.

In der umfassenden Kraftstrotzerei atmet etwas auf und aus - «Morton, Morton, Morton», ein Abend mit Musik, Tanz, Text und Stille von Joachim Schloemer. Als Tanzchef war er in Basel wenig geschätzt, jetzt ist der Choreograf und Regisseur überall gefragt. Und er kann perfekt fragen. Was steckt hinter Morton? Noch zwei Mortons, mindestens.
Morton Feldman (1926-1987) war ein lebensfroher Hüne und dekomponierte so schwächelnde Seltsamkeiten wie «For Bunita Marcus» (1985). Das Klavierstück beginnt mit zwei gleichen Noten. Doch Feldman macht im Ununterschiedenen einen Unterschied: Die erste Note wird rechts, die zweite links gespielt. Aus dieser Differenz entwickelt sich ein loses Konzert tendenziell unaufhörlicher Variationen von Klängen und mehr noch von Stillen -sehr zu unserer Hörspannung. Denn das materialarme Rinnsal droht ständig zu versickern, während es sich durch immateriellen Rhythmusreichtum am Leben erhält. Mehr mit dem Pulsschlag in den Fingerkuppen als mit den Fingern schlägt Markus Hinterhäuser die Töne an. Subtiler, also schwächer geht es nicht mehr. Doch in der Schwäche lebt etwas auf. Leuchtet die Kerzenflamme nicht dann am hellsten, wenn sie flackert?

Der Abend ist mitnichten esoterisch oder vertrauert, im Gegenteil: Klar und lebendig, also voller Überraschungen und Grenzerfahrungen für Auge und Ohr. Vom Wenigen können sie nicht genug bekommen, wohingegen fette Sachen schnell satt machen.
Der Raum von Schloemer und Sebastian Hannak ist eine Fortsetzung des Flügels. Er mündet in einen Fluchttunnel, der zum Bleiben einlädt, denn er ist auch ein Kaleidoskop. Mit jeder «Drehung», bewirkt durch ständige Lichtpausen, in denen Licht ausklingt, erscheinen die beiden Menschenklänge variiert: die Schauspielerin Marianne Hamre im strengen Deuxpieces und der Tänzer Graham Smith im nachlässigen Habit. Zweisprachig und zweistimmig setzen sie Feldmans Auseinandersetzung mit Kunst ineinander: «Moses hat uns keine Instrumente gegeben.» Doch sie sind da, streng gesetzlos. Das Auge sieht den Mann, während das Ohr die Frau hört; wo die Frau war, ist der Mann; wo beide waren, ist plötzlich nichts. Und in der Tunnelperspektive geraten Körperproportionen ins Surreale und Nähe wie Ferne durcheinander - all dies in einer Fülle von Übergängen. Kurz, unsere Sinne sind in der allerschönsten Krise - irritiert, geschwächt in ihren Gewissheiten, reduziert bis aufs empfängliche Mitatmen: Schwärze pulsiert ins Goldlicht, Helligkeit ins Dunkel; die besonnene Frau geht über in den Mann - und umgekehrt -, der in einem keuchenden Tanzsolo aus seiner Haut zu fahren sucht. Beide ergeben sich dem Pianisten, dem übergängerischen Musik-Atem. Und wir, hellwach, sind auch schon ein bisschen hinüber.

«Viel zu früh», heisst es immer in Todesanzeigen. Zu früh nach welchem Mass? Der Abend hat ein Mass: Gelassen erschöpft er sich an sich selbst. Er stirbt - vielleicht etwas zu kunstvoll - eines natürlichen Todes. Unbegreiflicherweise ist dieser Übergang, ein Nichts an Material, hörbar: Das Spiel hört auf.
Feldmans Töne sind wie Theatergänger - sie kommen aus der Nacht und gehen in die Nacht hinaus. In der Lichtung dazwischen könnte einem ungehorsam dämmern, dass Aufhören eine Lebenskunst ist und die weit verbreitete Sackstarkkultur ziemlich lebensfremd.

Günther Fässler