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Badische Zeitung, 4. November 2008

Die Freiheit der Möwen

Manchmal im Theater kommt einem die Welt draußen zu laut vor. Das passiert, wenn die Kunst sich dem Spiel ihrer eigenen Kräfte überlässt und nicht um Effekt und Botschaft schert. Wenn sie bei sich bleibt und sich nicht anbiedert beim Zuschauer, ihm aber das freundliche Angebot unterbreitet, in ihren Raum, in ihre Zeit einzutreten. Wenn sie ihn in einen meditativen Zustand versetzt. Ihn verzaubert. "Morton, Morton, Morton" ist so ein Angebot, ein kostbares, rares [...]

Es sind Bilder, die keine Geschichte erzählen. Jedes steht für sich allein - wie von Jean-Pierre Collot mit wunderbar atmendem Gleichmaß von den Flügelsaiten gelösten Klänge des Stücks "For Bunita Marcus", das Feldman 1985, zwei Jahre vor seinem Tod komponiert hat. Es ist Musik, die nirgendwo hinwill, den Klang keinem höheren Melodiezweck unterordnet, ihn erscheinen und - wie das nur auf Feldmans bevorzugtem Instrument möglich ist - wieder verebben lässt, bevor der nächste Klang gleichberechtigt neben dem vorigen erzeugt wird. "Schiebe die Klänge nicht in der Gegend herum", lautet Feldmans Credo und da er Klänge wie Menschen sieht, steckt darin auch ein moralischer Anspruch.

Joachim Schloemers Bildfindungen und Bewegungsbilder antworten kongenial auf Feldmans Musikauffassung: ein Glücksfall. Auch in Smiths dreiteiligem furiosem Tanzsolo ist es der Augenblick, der zählt, das sekundenkurze Anhalten der Bewegung, das Einfrieren einer Geste, das den Fluss der Zeit unterbricht - und losgelöst von jedem Wohin, Woher und Wozu, ohne Anfang ohne Ende den Schwebezustand des reinen Hier und Jetzt erreicht. Wenn sich der Tänzer wie in Zeitlupe am Boden in Laokoon-Windungen krümmt und dem Publikum seinen nackten muskulösen Rücken darbietet, wandelt sich sein Körper zur atmenden Skulptur, zum lebendigen Torso: ein grandioser Zusammenklang von plastischer Kunst, stationärer Bewegung und räumlicher Musik.

Das Ende mündet in den Anfang. Man schaut gern zu, wie Hamre und Smith die Kleider tauschen - spielerisch, nicht mit Bedeutung aufgeladen. Allenfalls so: dass die Geschlechtsidentität keine Rolle spielt in diesem Kosmos der meditativen Töne und geheimnisvollen Bilder, diesem sanft und mit leiser Komik um die Stille gelegten Mantel, dieser verführerisch asketischen Übung in Wahrnehmung und Konzentration. Ein kleines Möwengeschrei zuletzt: Jetzt hört man den Klang der Freiheit. Möchte ihn länger atmen lassen. Nur zögernd setzt der Applaus ein.

Bettina Schulte