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Die Zeit, 7. Dezember 2006

Wenn Mütter morden
Medea ist die Frau der Stunde, sie steht auf den Bühnen von Freiburg bis Berlin. Was wollen die Regisseure von ihr?

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Auf ganz andere, allerdings beeindruckend professionelle Weise ist die Freiburger Inszenierung dem Skandalon ausgewichen. Joachim Schloemer setzt [...] unerbittlich auf formale und ästhetische Qualitäten [...] Alles wird aufgeboten, was ein Stadttheater interdisziplinär einsetzen kann: Schauspiel, Musik und Tanz. [...]

Der erste Teil des Abends bringt Euripides in stark skelettierter Fassung zu Gehör. Die Akteure sitzen an einer langen Tischreihe, verrätselte Figuren im Halbdunkel, Bärte, Sonnenbrillen, eine Tiermaske. Die Situation erinnert an einen geheimen Untersuchungsausschuss, an eine Theaterprobe und ein wenig auch an die Ikonografie »Jesus und seine Jünger« (der Verräter Jason mit am Tisch). Die Regie nutzt alle Distanzmittel: Nebelmaschine, Mikro, Lichtspot [...]

Vor den zweiten Teil legt Schloemer eine lange Umbaupause, in der eine Tänzerin in feuerrotem Haarkokon (Sumi Yang) als Kreons Tochter verzweiflungsvoll stirbt und die junge Violinistin Julia Schröder ein fulminantes Solo, Berios Sequenza 8, an vier Notenpulten hinlegt. Nervenmusik, die mit Euripides nichts, mit Schmerz und Leidenschaft aber viel zu tun hat. Dann schließlich Heiner Müllers Monolog Medeamaterial (1968/69), die kalte, tödliche Abrechnung mit dem Sklavenhalter Jason. Johanna Eiworth, nun in knalliger Schminke und Glitzerkleid, tanzt einen starken, narzisstischen Auftritt, den Schloemer, darin einem Hinweis Müllers folgend, als Peepshow in ein Spiegelkabinett verlegt. Das ist körpersprachlich virtuos [...] Bedeutung löst sich auf in Choreografie, Gefühl in Geometrie.

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Gerhard Jörder