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Falter, 7. Mai 2003

Die Lust am Lärm
Der spannendste Beitrag zum Musiktheaterprogramm der Wiener Festwochen dürfte heuer von Wolfgang Mitterer kommen. Mit seiner Oper "Massacre" begibt sich der ungewöhnlich vielseitige Allroundmusiker auf ungewohntes Terrain.

Ein Hubschrauber wird durchs Ronacher fliegen, Vogelgezwitscher wird vom Kreischen einer Resopal bearbeitenden Säge übertönt, und lang gezogene Eselsschreie werden durch den prunkvollen Saal des Varietétheaters gellen. Auch hymnische Choräle einer verzerrten Kirchenorgel werden immer wieder zu vernehmen sein, Reminiszenzen an barocke Musik und tief unten ein jazzig gezupfter, fett verstärkter Kontrabass mit schier endlosem Nachhall. Wolfgang Mitterer hat eine Oper komponiert. "Massacre" heißt das knapp neunzigminütige Stück, das demnächst bei den Wiener Festwochen von der Taschenoper Wien im Ronacher uraufgeführt wird, und es bietet ein ordentliches Spektakel für die Ohren. Wie praktisch alles von Mitterer - obwohl der 1958 im Osttiroler Lienz geborene Musiker mit seinem Debüt in der gemeinhin als Königsdisziplin der Komposition betrachteten Gattung für sich einen völlig neuen Weg einschlägt. Die Oper und ihr altmodisch klassisch-romantischer Werkcharakter, überhaupt der Gedanke daran, "Musik für die Nachwelt" zu schreiben: Das war bislang ganz entschieden nichts für Mitterer. "Ich wollte eigentlich nie Oper machen, weil mir das allein schon vom Namen her viel zu konservativ war", beteuert er, nicht wirklich verlegen, aber doch ein bisschen unsicher, im Gespräch mit dem Falter. "Tja, und nun bin ich genau in diese Werkkiste gestolpert: Du musst zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Partitur abliefern, die wird dann beinhart vierzig, fünfzig Mal kopiert, die Musiker halten sich dran - und schon ist ein ,Werk' daraus geworden." Mit Koketterie haben Mitterers leichte Irritationen auf dem für ihn neuen Terrain freilich nichts zu tun. Der Mann ist einfach anderes gewohnt. Wenige Musiker arbeiten prinzipiell so konzentriert für die Musik im Moment ihrer Entstehung wie der sonst so selbstsichere Lederjackendauerträger, wenige stellen deren unmittelbare Wirkung auf die Zuhörer so konsequent ins Zentrum ihres Interesses. Das ist bei weitem keine Selbstverständlichkeit im Musikschaffen der letzten fünfzig Jahre. Anders als viele seiner akademisch geprägten und im Umgang mit der Gattung Oper erfahreneren Kollegen interessiert sich Mitterer weniger für die Reflexion über einen wie auch immer gearteten Umgang mit der Tradition, die Entwicklung oder Verfeinerung komplexer Kompositionstechniken, überhaupt das nur allzu oft zum weltentrückten Selbstzweck verkommende theoretische Rüstzeug klassischer Neuer Musik. Ihm geht es zuallererst um die Musik, und die muss "fahren". "Energie" ist das Wort, das Mitterer am häufigsten verwendet, wenn er über seine Musik spricht. Was freilich nicht heißen soll, dass er sich ebenso altbackener wie wirkungsvoller musikalischer Klischees bedienen würde. Auch Mitterer beteiligt sich an der unter gestandenen Avantgardisten obligaten Suche nach dem Neuen: "Es macht auch aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, auf eine Art zu komponieren, die man schon kennt. Es ist mittlerweile sehr schwer geworden, etwas zu generieren, das noch so etwas wie den Hauch des Ungehörten hat. Aber genau das brauchts auf jeden Fall, einfach, weil man dann seine Zuhörer viel tiefer verführen kann. Wer sich etwas Unbekanntes anhört, ist dem doch viel stärker ausgeliefert. Schließlich hat schon Bach genau deswegen die Stimmung seiner Instrumente verändert und ganz neue Tonarten ausprobiert." Auf seine Art verkörpert Wolfgang Mitterer, was man einen vollkommen altmodischen Musikertypus nennen könnte: den Typus des Allroundmusikers. Mitterer ist nicht nur Komponist, sondern in den meisten Fällen auch als Interpret direkt an den Aufführungen seiner Musik beteiligt; vor allem aber beherrscht er die im Bereich der komponierten Musik beinahe ausgestorbene Kunst der Improvisation. Was für Bach, Mozart und Beethoven noch selbstverständlich war, nämlich ihre eigene Musik aufzuführen und zudem nicht nur über ein vorgegebenes Thema, sondern auch innerhalb ihrer notierten Werke zumindest stellenweise frei zu "fantasieren", das ist heute in den klassischen Konzertsälen kaum noch zu hören. Komponisten komponieren und lassen in aller Regel die Finger von den Instrumenten; die sind hoch spezialisierten Interpreten vorbehalten, die sich wiederum tunlichst genau an die schriftlich fixierten Vorgaben der Komponisten halten. Nicht so bei Mitterer. Der hat zwar auch ein klassisches Kompositionsstudium an der Wiener Musikhochschule hinter sich, wurde aber vor allem als Organist ausgebildet - den neben den Jazzern letzten Musikern, die in universitärer Ausbildung und Praxis noch die Improvisation hochhalten. "Dieses Musikermodell ist sicher selten geworden, von mir aus kann man es auch altmodisch nennen", sagt Mitterer. "Nur ist das nicht mein Problem, sondern das der anderen Komponisten. Wenn die keine Lust haben, auf die Bühne zu gehen, verzichten sie ja auf das Beste: selber Musik zu machen! Aber wenn man alte Aufnahmen sieht, wie Bartók Klavier gespielt hat, dann versteht man, warum der so dynamisch komponieren konnte." Der Orgel mag Wolfgang Mitterer die rare Kunst der Improvisation verdanken - und dieser wiederum sein gespaltenes Verhältnis zum klassischen Werkgedanken: "Die Improvisation ist viel zu nah an der Flüchtigkeit, um dabei von einem ,Werk' zu sprechen. Es sei denn, man brennt das auf CD. Dann wird es zumindest vor der AKM (der österreichischen Musik-Verwertungsgesellschaft, Anm.) zu einem Werk - und als solches verrechnet." Im angestammten Bereich der Orgel aber, bei der Kirchenmusik, hat sich Mitterer nicht lange aufgehalten. Schon 1984 fand er das Instrument, das für ihn und seine Musik bis heute bestimmend bleiben sollte: die Elektronik, eher ein Instrumentarium als ein Instrument, das damals zwar nicht mehr brandneu war, aber am Beginn einer rasanten technologischen Weiterentwicklung stand. Mittlerweile sieht Mitterers kleine Altbauwohnung im dritten Bezirk aus wie das Innere eines futuristischen Rechenzentrums: überall Kabel, Keyboards und Monitore, Festplatten, Disketten und sonstige, zeitgemäßere Speichermedien. "Früher war Elektronik vor allem der schwingende Oszillator, der einem bald fürchterlich auf die Nerven gegangen ist. Heute kann man unglaublich viele verschiedene bunte Sachen mit dem Computer machen, vor allem, wenn man die Samplingtechnik miteinbezieht und reale Sounds als Ausgangspunkt der Verfremdung nimmt." Eben diese Samplingtechnik, das digitale Speichern und Bearbeiten vorgefundener Klänge und Geräusche, ist Mitterers Spezialität. Sechzig bis siebzig Gigabyte an Samples habe er derzeit zur Verfügung - und das sei "schon sehr viel". Nicht alle davon hat er selber gesammelt, die meisten stammen von Geräusch-CDs; aber durch deren permanente Weiterbearbeitung hat er es längst schon zu einem Wiedererkennungseffekt gebracht. "Den halte ich bei aller Suche nach dem Neuen für zumutbar. Ich will schließlich, dass die Leute auch merken, dass sie gerade Mitterer hören. Gefährlich wird es nur, wenn man einen Einheitssound produziert wie die Wiener Kaffeehauselektronik, wo alle die gleiche Software verwenden und sich davon die gleichen Beats und Sounds vorgeben lassen." Für die Neue-Musik-Homepage www.earsahead.com bastelte Mitterer ein nettes Gimmick, mit dem man sich selbst auf Computern, die nicht mehr ganz dem aktuellen Entwicklungsstand entsprechen, den typischen Mitterer-Sound anhören kann. Tierstimmen spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle, aber auch Maschinengeräusche, das Röhren von Motoren oder kurze Ausschnitte des klassischen Repertoires. Material genug, um damit einen ganzen Konzertabend lang allein zu improvisieren. Meist aber verwendet Mitterer seine Samples als Ergänzung "echter" Instrumente, als "Spielhilfen, auf denen man ordentlich geigen kann": sei es im Duo mit Erdem Tunakan, sei es bei seiner furiosen Neuvertonung von Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilmklassiker "Nosferatu" auf der mit zahlreichen Computern kurzgeschlossenen Orgel im Großen Saal des Wiener Konzerthauses. "Der Klaus Kinski der Orgel. Diabolus in musica. Mitterer hören und sterben!", schwärmte der Standard nach diesem Konzert im Rahmen von Wien Modern 2001. "Naja, das wird wohl heißen, dass die Energie rübergekommen ist", meint Mitterer grinsend zum teuflischen Vergleich. Und: "Ich führ mich ja wirklich auch oft so auf." Tatsächlich hat seine Musik einen gewissen Hang zum klanglichen Extrem. Riesenhafte Besetzungen wie etwa für seinen "Turmbau zu Babel" (4200 Sänger, 22 Schlagwerker, acht Trompeter und Tubisten, 16 Hornisten und ebenso viele Posaunisten sowie ein 8-Kanal-Tonband) mögen auch in Mitterers Schaffen die Ausnahme sein; aber "ordentlich krachen" lässt er es mithilfe der Elektronik auch in kleiner besetzten Stücken ausgesprochen gern. "Dafür ist vor allem meine persönliche Lust am Lärm verantwortlich", sagt Mitterer. "Ich muss zugeben, dass ich ein gewisses Wonnegefühl habe, wenn Energie von der Bühne kommt. Aber es geht dabei auch um etwas ganz anderes: Die klassische Neue Musik ist doch zu achtzig Prozent still und leise und hat keine Gestalt. Gestalthaft, ja überhaupt gestaltfähig wird Musik für mich erst, wenn sie einen gewissen Drive und eine gewisse Geschwindigkeit bekommt." Ein Musiker, der komponiert, an den Aufführungen seiner Musik meist selber beteiligt ist und sogar in technisch so aufwendigen Werken wie einer Oper noch Raum für Improvisation lässt; der von der Kirchenorgel kommt und auf diesem Instrument nach wie vor zu den interessantesten Bach-Interpreten des Landes zählt; der zugleich fraglos als einer der avanciertesten Elektroniker gelten muss; der sich als intimer Kenner der Neue-Musik-Szene kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, deren künstlerische Schwachstellen zu thematisieren, und zugleich auf strengen Avantgardefestivals wie in Donaueschingen präsent ist; dessen Musik aber auch auf den Tiroler Bergen gespielt wird, oder in Clubs oder bei den Wiener Festwochen: Ein solcher Musiker, sollte man meinen, sitzt zwischen allen Stühlen und gehört nirgendwo so richtig dazu. "Ich fühl mich überhaupt nicht an der Peripherie, auch wenn das Journalisten öfter schreiben, sondern im Zentrum meiner Arbeit", sagt Mitterer dazu. "Es ist mir wichtig, in verschiedenen Szenen ein Standbein zu haben. Wenn ich nur in einer Szene unterwegs wäre, müsste ich ja immer sehr nett sein, um an Aufträge zu kommen. Ich schau lieber, dass ich da ein bissl entspannter bleiben kann. Wenn die Bandbreite groß ist, geht sichs immer irgendwie aus." Den typischen Mitterer-Sound zu bewahren, seiner Musik die "Energie" zu geben, von der er immer wieder spricht, das gelingt ihm dennoch bei all seinen unterschiedlichen Projekten. Sogar bei einem so "konservativen Werk" wie seiner Oper, in der er Hubschrauber fliegen und Esel schreien lässt.

Carsten Fastner