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Basler Zeitung, 24. Mai 2004

Packendes «Grusical» über seelische Abgründe
Musiktheater nach dem Film von David Lynch: «Lost Highway» als Produktion des Theaters Basel in der Kaserne

Ein Mann hebt den Hörer der Gegensprechanlage ab und erfährt, dass ein gewisser Dick Laurent tot ist. Der Mann, der als Saxofonist in einem Jazzklub arbeitet, geht aus dem Haus. Als er später seine Frau anruft, die zu Hause lesen wollte, nimmt sie den Hörer nicht ab. Misstrauen wächst in ihm, und als er besorgt nach Hause eilt, findet er sie schlafend vor. Er versucht, mit ihr Liebe zu machen, doch zweifelt er plötzlich an ihrer Identität.
So beginnt der Film «Lost Highway» von David Lynch, und so beginnt auch das Musiktheaterstück mit demselben Titel, das die beiden Österreicherinnen Olga Neuwirth (Musik, Libretto) und Elfriede Jelinek (Mitarbeit) verfasst haben. Es ist nur der Anfang einer ganzen Reihe unheimlicher Erscheinungen, deren unheimlichste im Wendepunkt-Zentrum von Film und Stück steht: Fred wird zum Tod verurteilt, weil er seine Frau Renee getötet haben soll. Doch in der Todeszelle wird seine Identität durch eine andere ersetzt, durch die des Automechanikers Pete. Der kehrt zu seinen Eltern zurück, verfällt aber in der Freiheit der leichtlebigen Alice und gerät in kriminelle Verstrickungen, die bis zum Mord am reichen Pornoproduzenten Eddie reichen.
Aus den grossen Entfernungen, die das Film-Personal dieses intelligenten Horrorfilms in schnellen Autofahrten zurücklegt, sind hier die wenigen Meter der Reithallen-Bühne von Jens Kilian geworden; die gut zwei Filmstunden sind in der Kaserne zu neunzig Musiktheater-Minuten verdichtet. Neuwirth und Jelinek orientieren sich an der Filmhandlung, komprimieren aber vieles, deuten manches nur an wie die auf unerklärliche Weise ins Haus des jungen Paars gelangenden Videos. Es fliesst weniger Blut als in Lynchs Film, die brutalen Schlägereien sind nur angedeutet. Anderes ist frei umgedeutet: Während der sadistische Eddie im Film einem aufsässigen Auto-Verfolger den Garaus macht, ist es hier ein Raucher, der in der Autowerkstatt seinen Zorn auf sich zieht - für den Regisseur Joachim Schloemer Anlass, eine akrobatische Tanznummer zu choreografieren. Aufgewertet sind die beiden Detektive, die hier zu grotesken Chargen geworden sind. Doch das unerklärliche und unerklärte Zentrum des Geschehens bleibt, das Mysterium der Verwandlung eines Menschen in einen anderen.
Olga Neuwirth hat dazu eine Musik geschaffen, die sich nicht scheut, in die Trickkiste der Filmmusik zu greifen. Zuerst erinnert dumpfes Donnerrollen, dass wir es mit einem «Grusical» über seelische Abgründe zu tun bekommen. Die Solotrompete schmettert aufgeregt, die Streicher spielen kribbelige Flageolets. Dies alles unterfüttert von elektronischen Klangwolken, die wie Druckwellen bei einer Explosion wirken. Neuwirth bietet nicht nur das ganze Arsenal der zeitgenössischen Musik mitsamt dem reichen Feld des Geräuschhaften auf, sie hat auch tüchtig bei ihrem Landsmann Alban Berg gelernt. Wie in dessen Oper «Lulu» wird die Türklingel vom Xylofon gespielt. Und wie bei Berg steht die Sphäre der Dur-Tonalität für das Negative, für das Geld, die Heuchelei, die Party-Oberflächlichkeit. Doch anders als in allen bisherigen Musiktheaterstücken ist dies ein Werk, das den Gesang nur in homöopathischer Dosierung einsetzt: Der ganze erste Teil mit der Ehegeschichte von Fred und Renee ist gesprochen, erst mit dem Automechaniker Pete und seiner Western-Familie kommt die Singstimme ins Spiel.
Die Basler Aufführung des Werks - sie war zuvor schon beim Auftraggeber, dem Festival «steirischer herbst» in Graz, zu sehen - ist erstklassig besetzt. Da ist zuerst die Sopranistin Constance Hauman in der Doppelrolle Renee/Alice, eine Vokalistin von Rang und glänzende Schauspielerin dazu. Wie wenn ihm die Partie auf die Stimmbänder geschneidert wäre, gibt der Vokalakrobat David Moss die Partie des Eddy. Er scheint bald Bass und bald Sopran zu sein, gurgelt sich durch das ganze Stimmenspektrum und gibt mit seinem Todes-Verröcheln einen Abschied, der einem an die Nieren geht. Vincent Crowley ist der brillante Darsteller des Fred, der vor allem aus der Alten Musik bekannte Bariton Georg Nigl singt mit Hingabe den Pete. Erwähnt sei unter den weiteren Partien der «Mystery Man» des Countertenors Andrew Watts und Kai Wessels Altus-«Worker».
Das Basler Ensemble Phoenix spielt unter Jürg Hennebergers klar organisierender Leitung mit einem Engagement, das die vielfarbig schillernde Partitur von Olga Neuwirth in bestes Licht setzt. Und um eine Frage zu beantworten, die sicherlich an das Stück gestellt wird: Man muss den Film von David Lynch nicht kennen, um das Musiktheaterstück atmosphärisch erleben zu können. Aber wer die Handlung genau nachvollziehen möchte, tut gut daran, sich zuvor in einer Videothek «Lost Highway» auszuleihen.

Sigfried Schibli