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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Oktober 2007

Echte Griechen kommen mit dem Motorrad
Hostessen im Kampf der Kulturen: In Stuttgart wirken die "Trojaner" von Berlioz beeindruckend aktuell

[...] Wenn nun Manfred Honeck, neuer Stuttgarter Generalmusikdirektor, seine erste Spielzeit mit den "Trojanern" eröffnet, setzt er ein Doppelsignal: für höchsten Anspruch wie für ästhetisch-soziale Weitung. Denn "Les Troyens" leben aus der Spannung zwischen Individualtragödie und Kampf der Kulturen: Trojaner wider Griechen wie Karthager. Joachim Schlämer, der das Riesenwerk nun in Stuttgart inszenierte, hat diesen Aspekt fast ein wenig im Sinne von Huntingtons arg strapaziertem "clash of civilizations" akzentuiert. Da gibt es die "gute" archaische Welt der belagerten Trojaner und die "moderne" technizistische Gewaltherrschaft der siegreichen Griechen, dann die hochentwickelte, leicht dekadente Karthager-Zivilisation, die die Flüchtigen, nun "Tatmenschen", hinter sich lassen müssen: fast ein dialektischer Dreischritt. Einiger Logik entbehrt dies keineswegs, die Gegensätze werden immerhin gebrochen - und Schloemer, der vom Tanztheater kommt, verfährt artifiziell genug, um das Schwarz-Weiß-Schema bisweilen virtuos zu verflüssigen, etwa in akrobatisch hochtouriger action, grotesken Einzelexerzitien. Und er hat einen die Szenen durchgeisternden Schamanen eingeführt, der aussieht, als käme er vom Amazonas, doch in seinem Aktenkoffer hält er Spritzen bereit.

Die Welt der Trojaner ist eine gelbe Papp-Lehm-Höhle; alle sind friedlich, Männer und Frauen gleichberechtigt, die Kampfspiele der Jungen freundliches Kräftemessen. Alles wäre gut, stünde nicht der Feind vor den Mauern, blieben Kassandras Warnungen nicht fruchtlos, wie auch das durchchoreographiert wahnhafte Umhertorkeln Andromaches mit ihrem Hammer Unheil verrät. Ebendieses bringen Schloemer und der Ausstatter Jens Kilian gerade nicht als Monsterpferd, sondern, viel gefährlicher, als geheimnisüberwuchertes Motorrad: Pubertätstraum vom kraftverheißenden "Feuerstuhl", entsprechend begeistert vereinnahmt. Dafür kommen die Griechen als schwarze Killerschwadron an Seilen herab, und riesige Schwenkarme mit Suchscheinwerfern dringen mörderisch in alle Winkel: Zitat aus Spielbergs "Krieg der Welten".

Aber Schloemer hat sich nicht auf den Gut-böse-Kontrast versteift, lässt die entkommenen Trojaner in Karthago zu schwarzen Dauerkämpfern mutieren, Fremdkörper in einer steril weißen "2001"-Hermetik, voller TV- und Video-Allgegenwart im Politischen und mit emsig auf Laptops hämmernden Chor auf der Tribüne. Die gelangweilt-depressive Dido wird von ihrer Vertrauten Anna mit Boutiquen-Fummel und gelegentlich auch einem gemeinsamen Joint getröstet. "Leben" gibt es hier allenfalls als skurrile Beweglichkeitsstudien zweier Hostessen - oder aber als frenetische, kinoreife Verfolgungsjagd auf drei "Schwarze" mit Affenmasken.

Integrale Kehrseite solch synthetischer "Brave New World" ist krasser Rassismus. Doch die Trojaner bleiben Fremde in einem Lager aus gelben Zelten. Schloemer ist klug genug, Orientklischees zu vermeiden, aber auch die Weltenbrand-Metapher des "Rings": Didos Selbstverbrennung geschieht knapp auf einer Pyramide aus Menschen und Stühlen, nicht als Pyro-Feier. Dafür kontrapunktiert er den finalen Racheschwur der Trojaner gegen Aeneas mit zwei Knaben, die Papp-Panzer ins Publikum richten: Hannibals Kriege, Karthagos Untergang sind programmiert. Und mag die Musik den Zeitgenossen bizarr exotisch genug vorgekommen sein, so sind "Orientalismen" kaum zu finden. Insofern war Honecks Ansatz zumindest nicht verfehlt, setzt er, dem antiken Sujet entsprechend, auch auf die latente Klassizität noch dieses Riesen-Opus. Zwar ließen sich einige experimentelle Klangmixturen, schier groteske Details noch drastischer hervorkehren; dafür aber war die Kohärenz des Ganzen überwältigend, suggestiver zumindest als das aufgemotzte Sammelsurium von Effekten, Berlioz früher gern unterstellt. Dem Chor fallen gigantische Aufgaben zu, die er fulminant löste, und auch das Orchester präsentierte sich vorzüglich. Dass "Les Troyens" selten auf die Bühnen kommen, liegt nicht nur am Vorurteil von der "Unmöglichkeit", auch wenn diese Bestandteil von Berlioz' Exzessivität ist, sondern auch an den immensen Schwierigkeiten der Hauptpartien. Die tiefere Stimmung, der gedämpftere Orchesterklang mögen einst manches erleichtert haben. Stuttgart jedenfalls kann mit einer vorzüglichen Besetzung aufwarten. [...]

Es war ein langer Abend. Es kam einem nicht so vor.

Gerhard R. Koch