Foto

Aargauer Zeitung, 18. August 2008

Blick in eine zerklüftete Seelenlandschaft
Zwei unterschiedliche Tauzstücke wurden uraufgeführt: Stark und ergreifend ist «In Schnee» von «artiste etoile» Joachim Schloemer [...]

Ein Mann allein vor einem Haus, den Blick in sich gekehrt, verstört, verunsichert. Eine Frau erscheint ihm, windet sich unter seine Kleider, als wüchse sie aus ihm heraus. Sie ist ein Geschöpf seiner Fantasie. Die Körper verknüpfen sich, trennen sich wieder.

So beginnt «In Schnee», das neue Tanzstück von Joachim Schloemer, «artiste étoile» des Lucerne Festival. Sein Stück baut er auf das Kapitel «Schnee» aus Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» auf. Darin gerät Hans Castorp in einen Schneesturm. Der Erschöpfung nahe, entwickelt er Halluzinationen über Leben und Tod. Diese existenzielle Erfahrung, die Castorp an die Grenze von Wahn und Tod führen, setzt Schloemer in eindringliche, starke Bilder, die sich in ihrer eigenständigen Ästhetik ganz von der Vorlage lösen. Er nennt seine Hauptfigur deshalb vieldeutiger C. (herausragend getanzt und gespielt von Daniel Jaber).

Als Musik verwendet Schloemer die sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach (1720). Sie sind für ihn vollendeter künstlerischer Ausdruck genau dieses Existenziellen. Die drei Cellisten Sebastian Diezig, David Na und Mattia Zappa spielen die sechs Suiten nacheinander - getrennt durch kurze Sequenzen elektronischer Schnee-Klänge (Thomas Jeker) und Celloimprovisationen - quasi ein Stück. Sie meistern ihre schwierige Aufgabe mit Verve und Leidenschaft. Die Choreografie entwickelt sich teils präzis auf, teils wieder gezielt gegen die Musik und sie erhält durch den Tanz auch faszinierende Körperlichkeit.

Das Haus auf der Bühne, der Spielort, symbolisiert die Innenwelt von C. Hier erscheinen ihm neben der Frau aus der ersten Szene weitere Figuren (perfekt und mit hoher Intensität tanzen Paea Leach, Su-Mi Jang, Maria Pires, Clint Lutes und zudem der Elektroniker Thomas Jeker). Sie umgarnen, bedrängen und greifen C. an. Diese Verstörten, Einsamen, Sehnsüchtigen, Aggressiven sind Teile seines Innenlebens. All das Divergierende, das in der Psyche tobt, das spricht immer auch aus dem Blick der Figuren. Die Blicke treffen noch, wenn sie von den auf Karton ausgeschnittenen Fotografien der Figuren schauen, welche diese als Masken vor sich tragen. Sie sind hier wahnhaft starr.

Es ist eine zerklüftete Seelenlandschaft, die Schloemer ausleuchtet, die er auch in Bachs Musik liest. So ist das Symbol dafür, der Schnee, hier nicht spurenlose Weite, sondern eine als Videobild projizierte Gletscherlandschaft mit Rissen und Spalten.

Mit den Videosequenzen - eine zeigt die Liebesszene des Anfangs - bezieht sich Schloemer auf David Lynchs Film «Lost Highway» (er inszenierte Olga Neuwirths Oper nach dem Film). Es ist, als ob hier das Innere von C. gefilmt worden ist. Der Blick in sein zerklüftet eisiges Innen stürzt ihn in den Wahn. Er sieht menschliche Körper nur noch fragmentiert. Am Schluss erscheinen die Figuren als Fotografien - zu papierenen Erinnerungsstücken erstarrt - auf der Bühne: ein beklemmendes Bild. Einzig Bachs Musik lebt, sie überwindet die Vergänglichkeit.

[...]

Christian Fluri