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Neue Zürcher Zeitung, 14. September 2012

Realismus statt Utopie
«Fidelio» am Stadttheater Bern

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Die Eröffnungspremiere im Stadttheater mit Beethovens «Fidelio» unterstrich diesen Neuanfang in exemplarischer Weise. Dass das Berner Symphonieorchester im Graben des Theaters sass, war schon vor der Fusion der Normalfall. Dass aber dessen Chefdirigent die Aufführung leitet, ist eine Neuheit. [...]

Ereignischarakter hat darüber hinaus die Tatsache, dass in Bern nicht die Standardfassung von Beethovens Oper gezeigt wurde, sondern die sehr selten gespielte Urfassung – beziehungsweise eine leicht modifizierte Form derselben, die Venzago selber eingerichtet hat. Bekanntlich hat Beethoven «Fidelio» nach der missglückten Uraufführung von 1805 noch zweimal umgearbeitet, nämlich 1806 und 1814, und diese letzte Fassung wird heutzutage normalerweise aufgeführt. Die Urfassung ist gegenüber der Standardfassung etwa 45 Minuten länger, widmet der Marcellina-Geschichte grössere Aufmerksamkeit und ist noch nicht vom gleichen utopischen Pathos erfüllt.

Florestans Kerkerarie endet in Bern nicht mit der ekstatischen Wendung «Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich, der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich», sondern mit dem realistischen Andenken an die «schönen Tage, als mein Blick an deinem hing». Der Tenor Tomasz Zagórski, für einen ausgehungerten politischen Gefangenen viel zu füllig, verfügt stimmlich über eine Leuchtkraft, die sich vor allem in den lauten Passagen zeigt. An die Leonore von Miriam Clark kommt er aber nicht heran. Die deutsche Sopranistin ist eindeutig der Star dieser Produktion. Wie sie den Wandel von der emotional zurückgebundenen Hosenrolle zur befreiten und befreienden Frau darstellerisch und stimmlich schafft, ist schlicht sensationell. Konkret geschieht das in ihrer grossen Monolog-Arie im zweiten Akt, deretwegen allein sich der Besuch der Aufführung bereits lohnt.

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Die Absichten des Regisseurs Joachim Schlömer, der Bühnenbildnerin Olga Ventosa Quintana und der Kostümbildnerin Heide Kastler lassen sich am deutlichsten an der Figur des Pizarro von Robin Adams aufzeigen. Im Unterschied zu Rocco ist der Gouverneur des Staatsgefängnisses kein Militär in grauer Uniform, sondern ein Durchgeknallter mit langen Haaren und offener weisser Jacke. Er steht dafür, dass Gewalt heutzutage nicht nur von totalitären Regimen ausgehen kann, sondern auch von Verblendeten und Terroristen. «9/11» lässt grüssen. Die Gefangenen werden in kahlen, grauen und dunklen Innenräumen festgehalten, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Umso wirkungsvoller dann die Wende am Schluss: Pizarro wird erhängt, die befreiten Gefangenen präsentieren sich in bunten Kleidern und im hellsten Bühnenlicht. Aber sie können ihr Glück noch nicht richtig fassen und bleiben bei ihrem chorischen Schlussjubel «Wer ein holdes Weib errungen» – der nicht nur textlich an das Finale der Neunten anspielt – wie angewurzelt stehen. Und auch Leonore kann sich noch nicht richtig am wiedergewonnenen Gatten freuen. Der Schock über die menschlichen Abgründe, die sie erlebt hat, sitzt noch tief. Solche Szenen, in denen die Bewegungen zu raffiniert angeordneten Bildern gerinnen, gehören zu den Stärken dieser Inszenierung.

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Thomas Schacher