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Der Landbote, 10. September 2012

Ein anderer «Fidelio»

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Sie alle tragen eine Aufführung, in der es nun freilich nicht nur um die «originale» Partitur geht, sondern um das Operntheater heute, und mit dem Regisseur Joachim Schloemer ist der Abend geprägt von einer «Originalität» ganz anderer Art. Mehr als das Thema der Ehe-Metaphysik interessiert ihn der sexuelle Übergriff: Im bösen Licht eines Vergewaltigers zeigt er Jaquino, und auch für Pizarro findet sich die Gelegenheit - in der Kerkerszene(!). Er stürzt sich auf Leonore, gleich nachdem sie sich ihm (hier unbewaffnet) als Frau zu erkennen gegeben hat.
Das verwundert im Handlungszusammenhang nur insofern nicht, als dieser Pizarro als grauslicher Party-Junkie erscheint, dem letztlich alles wurst ist, auch die eigene Haut. Statt der Soldateska hat er ein Hündchen zur Begleitung, und dieses ist ein Holzklotz mit Leine: Man fragt nach der politischen Brisanz dieses Gouverneurs und ruft nicht nach der Revolution, sondern nach der Psychiatrie, und insofern ist es konsequent, dass Leonores revolutionäre Rettungsaktion suspendiert ist.
Für die düstere Atmosphäre des politischen Szenariums hat Olga Ventossa Quintana eine formklare und äussert expressive Bühne gebaut. Die steile Rampe wird im Verbund mit der Drehbühne zur Raumskulptur, die ein ganzes
System unterirdischer Gänge und Räume erahnen lässt und in ihrer Abstraktion die Atmosphäre der Oper genau trifft. Die Szene des Gefangenenchors, hier auf dem Weg nach draussen und wieder zurück ins Innere, ist ein besonders eindrückliches Beispiel für das Zusammenspiel von Raum, Figur, Musik und Aussage der Oper.

Herbert Büttiker