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Badische Zeitung, 18. Oktober 2010

Ein Unheil wird kommen
Joachim Schloemers neuer Musiktheaterabend "Engel der Verzweiflung" hatte im Theater Freiburg Premiere.

[...] Wie ein dem Barock entsprungener Putto schwebt Maura Morales hoch über der Bühne: zuerst in einer sphärischen Kugel, dann hinter einer Glaswand. Ihre akrobatische Luftnummer hat auch etwas von den Bewegungen einer Schwimmerin unter Wasser: traumhaft entrückt, während unten auf dem von Schloemers Ausstatter Jens Kilian mit schwarzgrauen Quadern umstellten harten leeren Boden die ausdrucksstarke Sopranistin Cristina Zavalloni eine Canzonetta spirituale des Barockkomponisten Tarquinio Merula anstimmt, die für die Zukunft nichts Gutes verheißt; ein Wiegenlied ist es eigentlich, doch die Tröstungen ("schlaf mein Kind und weine nicht") münden in düstere Prophezeiungen: "denn die Zeit der Tränen wird noch kommen".

Die Endzeitstimmung jener Epoche geht sozusagen nahtlos in ein Katastrophenszenario unserer Tage über - auch und gerade musikalisch. Das von Maurizio Grandinetti verantwortete barocke "Pasticcio" aus Arien und Liedern von Händel, Sigismondo d'India, Scarlatti und Alessandro Stradella wird mit einer höchst ungewöhnlichen Besetzung dargeboten. Im Mittelpunkt stehen der Freiburger Rahmentrommler Murat Coskun und seine machtvollen perkussiven Begleiter (David Kuckhermann, Michael Metzler, Andrea Piccioni und Joss Turnbull), dazu bedient Ian Harrison Zink, Fidel, Schalmei (die wie eine Trompete klingen kann) und Dudelsack, Grandinetti selbst spielt akustische und E-Gitarre. Für Puristen mag das schwer genießbar sein, doch aus der Reibung zwischen der fremden Schönheit der von den grandiosen Sängerinnen - neben Zavalloni die Mezzosopranistin Anna Radziejewska - mit affektiver Dringlichkeit intonierten Gesänge und den schweren Beats der Trommler, den mitunter rockig aufjaulenden Gitarrentönen samt elektronischer Störgeräusche lässt sich mancher erregende Funke schlagen [...]

Wie hier die Grenzen zwischen den Kunstformen verlaufen, ist kaum noch auszumachen: Der gelernte Choreograph versteht sich schließlich schon seit längerem als Regisseur auf dem Weg zu einem neuen Musiktheater.

Es gibt berückende Szenen und eindrückliche Bilder im Zusammentreffen des Heterogenen, das nicht zuletzt auch für geglückte Interkultur stehen mag - wenn die Rahmentrommler Cristina Zavalloni mit ihren Instrumenten fast liebkosen oder am Ende eine Gruppe in phantastisch morgenländischer Kostümierung die herzzerreißende Scarlatti-Arie "Caldo sangue" ("Ich blute aus, ich sterbe") einrahmen wie ein lebendes Bild. Für den Engel ist es da längst Zeit zu gehen. Die Menschen klammern sich an ihn, es wird ihnen nicht helfen. Eine Glaswand versperrt den Horizont, vor dem wir, wie in großen Lettern zu lesen war, alle gleich sind. Ein Roboter fährt darüber hin und her und verspritzt blauschwarze Farbe. Ein Unheil wird kommen. Oder auch nicht.

Bettina Schulte