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Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 2001

Ich bin ein vollständiger Abgrund
An den Grenzen des Irrsinns: Joachim Schloemer inszeniert im Casino des Wiener Burgtheaters das Artaud-Projekt "Die Nervenwaage"

Kein Schaum vorm Mund. Kein Blut. Keine Genitalien. Kein Gliedergezappel, kein exhibitionistisches Gebrülle oder Gestammel. Überhaupt nichts von dem, was der Name des irren Theaterzerstörers Antonin Artaud landläufig anzudrohen oder zu verheißen pflegt. Und doch, und gerade deswegen: Unter dem Titel "Die Nervenwaage" hat der Basler Tanztheater-Direktor Joachim Schloemer mit einem knappen Dutzend junger Burgschauspieler im Casino am Wiener Schwarzenbergplatz ein unheimlich starkes Stück zu Artaud einstudiert.
Was heißt schon irr? Wenn das Leben irrsinnig ist, kann das Theater nicht gut vernünftig sein, kann einer unheilen Welt nicht immer bloß die heile vorspielen. Dass es das auch niemals getan oder jedenfalls sich darauf nie beschränkt hat, ist wohl wahr. Wahr ist aber auch, dass jener alles nur vorgeblich heile (und damit auch sich selbst) in Frage stellende "dekonstruierende" Impetus des Theaters, ja der Künste überhaupt, während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht mehr erkannt wurde. Eine Folge davon war die Erfindung des De-konstruktivismus als eigener Gattung.
Auf das Theater bezogen ließ sich De-konstruktivismus definieren als die Ablösung einer - und eben nur einer - Funktion des Theaters vom Theater selbst. Meist war das, ob gut oder böse gemeint, vor allen Dingen eine sterbenslangweilige Angelegenheit: Statt lebendigen Menschen, die sich und uns immer auch an die Ränder des eigenen Abgrunds an Irrsinn führten, schienen da lauter leibhaftige Irre zu agieren; statt den Umschlag von lebendigen Trieben und Taten in die Perversion als deren stets innewohnende Gefahr - inklusive der gefährlichen Lust an dieser Gefahr - kenntlich zu machen, wurden die Perversionen nun gleich als solche auf der Bühne exekutiert.
Als Vorläufer, ja als Guru jenes Verfahrens galt und gilt Antonin Artaud. Der französische Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur lebte in der ersten Hälfte des vergangenen Theaterjahrhunderts und wurde der zweiten zum bösen Gewissen, zum Quälgeist, zum Stachel im Fleisch. "Das Theater wird entweder die Welt selbst sein", nämlich die "gepeinigte" , die wahnsinnige Welt, "oder wir verzichten auf das Theater". Oder: "Das wahre Theater ist mir immer wie die Übung einer schrecklichen und gefährlichen Handlung erschienen - Schmelztiegel aus Feuer und wirklichem Fleisch, in dem sich durch das Stampfen von Knochen, Gliedern und Silben die Körper erneuern."
In der Art etwa rasen Artauds Sätze atemlos dahin; wer sie liest, sieht fortwährend Fetzen fliegen und kommt dabei selbst außer Atem. Jeder Versuch, Artauds "Theater der Grausamkeit", also verzweifeltes Aufbegehren wider die Konventionen (des Lebens wie des Theaters) mit Hilfe möglichst krasser Tabuverletzungen auf der Bühne nachzubuchstabieren, landet ganz zwangsläufig in der schlimmsten, weil durch nichts mehr aufzubrechenden Konvention - der Konvention des Unkonventionellen.
Nichts davon bei Schloemer. Der von Jens Kilian gebaute Spielraum, eine Art Probebühne, hinten von einem durchlaufenden gelbbraunen Buchenholzpaneel abgeschlossen, und die schwarz-weißen Kostüme der Akteure wirken so unspektakulär wie möglich. Irritiert wird hier nur, wer sehr genau hinschaut und hinhört. Das nämlich ist die zweite und sehr viel gescheitere Lesart von Artauds Wahnsinn, die Schloemer einem damit höchst suggestiv nahe legt: Nicht in der Zurschaustellung des Unnormalen und scheinbar Widernatürlichen mit Hilfe großer wilder Gesten (die hier allenfalls als ironische Kommentare vorgeführt werden) liegt die Provokation, sondern in minimalen Akzentverrückungen, im Sichtbarmachen kleiner und kleinster Brüche beim Vorführen der banalen Realität.
Der Abend besteht aus 14 Miniaturen, darunter ein Mini-Hörspiel Artauds oder eine unverschämt schöne Parodie von Gilbert Becauds Chanson "L'important c'est la rose", eingerahmt und einmal unterbrochen durch "Körperübungen" des ganzen Ensembles. Wie nötig diese Übungen sind, macht dann schon die erste und titelgebende Nummer deutlich: "Die Nervenwaage" (nach einem kurzen Text Artauds über seinen privaten Irrsinn) ist ein Tisch, um dessen Beine die Schauspieler - erst einzeln, dann im Ensemble - sehr ruhig und konzentriert ihre Gliedmaßen wickeln. Ist so der Zustand höchstmöglicher Verzerrung erreicht, tritt ein anderer hinzu und schiebt kleine bunte Bauklötzchen unter die Tischbeine: Die Stabilisierung des Ungleichgewichts. Dazu werden, gleichfalls vollkommen unaufwendig, einzelne Artaud-Sätze rezitiert: "Ich bin ein vollständiger Abgrund", zum Beispiel.
Man lacht und weint an dieser Stelle -. lacht, weil man weinen möchte, und weint, weil das ja tatsächlich zum Lachen ist: so viel Verkrampfung in den eigenen Schmerz. Ganz nebenbei nimmt man erstaunt wahr, wie die große Körpergenauigkeit der Spieler auch die Genauigkeit der Sprachwahrnehmung fördert.
"Die Sprache, durchbrechen, um das Leben zu ergreifen", hat Artaud gefordert. Schloemer und sein phänomenal agierendes Ensemble (aus dem man guten Gewissens keinen und mit ein wenig schlechtem Gewissen vielleicht doch den wunderbaren Hanspeter Müller hervorheben darf) machen an diesem Abend auch - auch! - das Gegenteil: Sie durchbrechen das Leben, um die Sprache zu ergreifen.

Rainer Stephan