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Berliner Zeitung, 25. Mai 2007

Musik mit Schlagseite
Joachim Schloemer inszeniert Zemlinskys Oper "Der Traumgörge". Am Sonntag ist Premiere

Die Entstehung von Alexander von Zemlinskys "Traumgörge" - der an der Deutschen Oper Premiere hat - dürfte in der Operngeschichte einmalig sein: Der erste Akt war bereits fertig komponiert, da wussten Zemlinsky und sein Librettist Leo Feld immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. Könnten Sie sich auch andere Fortsetzungen für diese Geschichte vorstellen?
Ja. Es hätte eine Art Peer-Gynt-Geschichte werden können in mehreren Stationen, an unterschiedlichen Orten, wo der Görge auf mehrere, noch unterschiedlichere Personen trifft.

Man hat das Gefühl, dass der Held mit all seinem Schwung gerade bis ins Nachbardorf kommt und dort hängen bleibt.
Ja, und schwer enttäuscht ist, weil er es noch nie dorthin geschafft hatte. Es hat uns immer wieder verblüfft, in welch unlogischem Verhältnis der zweite Akt zum ersten steht. Man könnte sich vorstellen, dass das der Anfang einer ganz anderen Oper ist, oder ein zweiter Akt, der einen ganz anderen ersten Akt benötigt. Auch der dritte Akt ist kaum mit dem Vorhergehenden verknüpft. Es ist eine auf ein Surrogat reduzierte Musik, die noch schön sein will und doch schon unheimlich ist. Sie will eine Dorfidylle vorgeben, ist aber schon längst mutiert. Es herrscht eine mutierte Freundlichkeit.

Das Finale, diese Versöhnung von Märchenbuch und Werktätigkeit, empfinden Sie als Scheinlösung?
Ich finde das Ende dieser Musik das Furchtbarste, was passieren kann. Es hat etwas Hochsektiererisches, da kommt einer heim und baut gleich eine Schule, in die alle Kinder gehen. Es ist eine wirkliche Scheinidylle: Die Musik tut so, als ob alles noch heil wäre - wie der Text es vorgibt -, kriegt aber immer mehr Schlagseite. Bis sie irgendwann wirklich schräg liegt. Das, was gesungen wird, kann nur anders gemeint sein. Für mich hat das etwas von den Juden auf der Festung Massada - die Menschen sitzen oben auf dem Felsen, und die Katastrophe der Welt rückt immer näher. Er schafft es dank seiner Demagogie, sie dem Dorf für diesen Moment noch fernzuhalten.

Was ist denn nun eigentlich das Thema des Traumgörge? Das ist ja gar nicht einfach zu sagen.
Der Traumgörge ist ein Mensch, der die Vision seines Traumes vor den Wert der Realität schiebt, weil er an dieser Realität keinen Gefallen findet. Da er aber hoch intellektuell ist, der Sprache mächtig, wird er zum Demagogen. Das wirkt natürlich harmloser, weil er sich auf diese Märchen bezieht, Frau Holle und wie sie alle heißen, als wenn er zu den Waffen rufen ließe - was er ja im zweiten Akt dann beinahe tut.

So wie Sie diese Figur beschreiben, denkt man fast an die Biografie von Hitler, der sich ja auch zunächst als Künstler fühlte, als Maler, sogar als Komponist, und schließlich in die Politik ging. Und auch versucht hat, Deutschland durchzuästhetisieren.
Ein Stück weit ist das ja auch so an dem Abend. Es kommen die Massen mit Feuer auf die Bühne, es wird ein Pogrom angezettelt, und es wird ein Wortführer gesucht. Der Traumgörge soll ihr Goebbels sein.

Aber das Stück ist von 1904, 1905.
Ja, es ist unglaublich, wie visionär das ist. Kaspar erkennt, dass er die Menschen nur in den Tod schicken kann mit einem Redner wie Görge. Das einzige Problem ist, dass sich der Görge in diese Außenseiterin Gertraud verliebt hat. Deswegen stellt er sich gegen die Massen und nun geht es doch in eine andere Richtung, in einen zweiten Traum, die Erfüllung der Liebe.

Ganz naiv gefragt: Ist der Görge eine Figur, die Sie sympathisch finden?
Ich glaube, er will von Anfang zu viel, zu sehr, und daran scheitert er. So wird die Figur auch musikalisch gezeichnet. Er macht eine gute Sache, wenn er Gertraud rettet. Das berechtigt seine Existenz, auch als Figur im Theater. Aber er tut es auch nur im Affekt, weil er sich auf eine der beiden Seiten schlagen muss. Ich weiß gar nicht, ob mir die Figur sympathisch ist. Der Sänger ist mir sympathisch, Steve Davislim, und ich finde es gut, dass er den Görge nicht sympathischer macht. Die Figur hat eine Leidenschaft, und damit geht sie auch unter - aber nicht allein, sondern mit allen. Und das macht den Görge zu einem Visionär, aber von dort ist der Grat zum Sektierertum und Demagogentum nicht weit. Im Endeffekt geht es mir darum: diesen schmalen Grat durch diese Oper zu begreifen. Es ist schwierig, weil das Stück nicht so gebaut ist. Man hört es nicht durch Text, sondern in der Musik.

Lässt sich Zemlinskys Musik denn wirklich so eindeutig interpretieren, wie Sie das tun? Bewahrt sie nicht, schon durch die unablässige Transformation ihrer Motive, etwas Schillerndes, Mehrdeutiges?
Wenn man's inszeniert, muss man natürlich trotzdem sehr konkret werden, gerade bei diesem Stück, das sich nicht von selbst erzählt. Es hat mich am Anfang auch ziemlich ratlos gemacht. Ich habe mich nun eineinhalb Jahre immer wieder damit beschäftigt, und ich muss sagen: Es hilft sehr, Menschen dazu zu sehen, das Stück in den Proben nochmal zu entdecken.

Vielleicht, weil Sie aus Ihrer Herkunft als Tänzer und Choreograph gewohnt sind, mehr mit Körpern zu arbeiten als mit Texten?
Das ist jetzt eigentlich schon vorbei, ich arbeite ja viel im Schauspiel und mache nur noch seltenst Tanz.

Trotzdem ist die Erfahrung als Choreograph etwas, das Sie anderen voraushaben.
Ich weiß aber nicht, ob das immer ein Vorteil ist. Aber ich merke schon bei so komplizierten Dingen wie dem Traumgörge, dass da die physische Anwesenheit von Sängern hilft, eine Geschichte zu erzählen, über die Präzisierung der Körpersprache, nicht nur der musikalischen Sprache: Wann zieht sich jemand in sich selber zurück, wann bricht er aus. Weil der Körper nochmal eine andere Konsequenz hat und mitteilt. Es spüren, glaube ich, auch die Sänger, wenn ich mit ihnen arbeite, dass ich auch bei schwierigen Sachen sehr genau sagen kann, wie man physisch dazu im Verhältnis stehen kann, um es auch leisten zu können. Ich finde auch, die Sänger beim Traumgörge machen das alle phantastisch.

Mit anderen Sängern würden Sie eine andere Inszenierung machen?
Ja. Das ist bei mir immer so.

Aber dann fragt man sich, wie so ein Stück im Repertoirebetrieb überlebt. Bei dieser Oper, die ja nur ganz wenige Sänger eingeübt haben, ist das vielleicht kein Problem. Aber etwa eine Verdi-Oper, wo viele Gäste singen - da ist doch Ihre Arbeit ruiniert.
Außer, wenn es einen verantwortungsvollen Intendanten gibt, der einen gleichgesinnten Sänger sucht, nicht nur eine Stimme. Wer mich engagiert, der weiß, mit welcher Genauigkeit ich mit Körpern und Menschen arbeite und wie sehr ich auf den Text achte; und der weiß, wenn ein Sänger ausfällt, muss man jemanden holen, der das kann. Leider ist mir das vor kurzem bei Mozarts "Così fan tutte" anders gegangen. Da ließ ich Fiordiligi schwanger sein, um die Grundspannung zwischen den beiden Paaren zu vertiefen. Diesen Aspekt hat der neue Intendant in der Wiederaufnahme kurzerhand weggelassen. Es gefiel ihm einfach nicht. Ich hätte ihn verklagen können, mich vor Gericht mit ihm streiten, damit die Leute kapieren, dass ich das nicht als kleinen Witz oder als Einlage gemeint habe, sondern als physisches Zeichen, dass hier zwei Menschen mit zwei anderen in einer extremer erfassbaren Konstellation stehen. Von der Genauigkeit der Realisierung dieser Details lebt die Bildsprache meines Theaters.

Das Gespräch führte Wolfgang Fuhrmann