Foto

Klassik.com, 23. Mai 2007

Alles fließt
DVD Interpretation: **** Klangqualität: **** Repertoirewert: **** Booklet: *** Features: *** Regie: *****

Der Begriff 'Jahrhundertring' ist schon zu oft gebraucht worden, um ihn auch auf das Stuttgarter Unternehmen, das Intendant Klaus Zehelein gegen Ende des letzten Jahrtausends angestoßen hat, anzuwenden. Und doch ist der Stuttgarter Ring von 1999 bereits Legende, so neu und zugleich nahe liegend war sein Konzept. Erstmals wurden die vier Abende der Tetralogie nicht von einem einzigen Regisseur inszeniert, sondern von vier verschiedenen. Ein jeder konnte so seine eigene Antwort auf die Problematik des Mythos geben. In der Spielzeit 2002/2003 erfolgte eine umjubelte Wiederaufnahme der vier Inszenierungen, die sukzessive auf DVD erscheinen wird. Den Anfang macht nun Joachim Schloemers Deutung des Rheingolds. Der Livemitschnitt aus der Stuttgarter Staatsoper ist in Koproduktion mit dem SWR und arte bei Euroarts erschienen.

Im Anfang war alles schon da. Das gesamte Götterpersonal samt Riesen, Zwergen und Rheintöchtern, steht beziehungslos im fließenden Urmotiv auf der Bühne. Deren Gestaltung hat Jens Kilian übernommen und die Handlung in ein Kurhotel der Gründerzeit verlegt, mit marmornen Wänden und überdimensionalem Heilwasserbrunnen in der Mitte der Halle. Ein wenig erinnert das alles an Thomas Manns Zauberberg, und in ähnlicher Intensität entfaltet sich auch nach und nach ein Kammerspiel zwischenmenschlicher Beziehungen, in dem alles schonungslos offen gelegt wird. Wotans Firma ist am Ende, und der grämliche Familienpatriarch musste längst zusehen, wie seine Frau die Hosen angezogen hat. Loge als gerissener Geschäftsmann hat die feindliche Übernahme durch Alberich kühl eingefädelt, und mit Fasolt und Fafner dringt ein Stück unternehmerischer Halbwelt in die Inszenierung ein.

Vom großen Opernzauber ist hier nichts zu spüren. Verwandlungen und Tricks wären fehl am Platze, für Utopie und Idealismus bleibt kein Raum. Nur einmal erahnt zumindest Wotan eine andere Welt, wenn Erda in einem großartigen Theatermoment auftaucht, und die Urgewalten die vertraute bürgerliche Welt durcheinander wirbeln. Der Opernneuling Joachim Schloemer hat eine durch und durch überzeugende Deutung von Wagners Eingangswerk gefunden, indem er das germanische Götterspektakel in die Nähe eines Strindbergschen Kammerspiels gerückt hat.

Der tiefe Eindruck, den diese Inszenierung hinterlässt, ist auch den Sängern zu verdanken, die kaum besser besetzt sein könnten. Esa Ruuttunen als Alberich beeindruckt durch enormen körperlichen und stimmlichen Einsatz, der die Tragik des betrogenen Betrügers erschreckend deutlich offen legt. Robert Künzlis Loge als moderne Heuschrecke fasziniert vor allem in seiner großen Erzählung, die auch auf der Bühne alle in ihren Bann zu ziehen scheint. Wenn schließlich Mette Ejsing als Erda mit ins Mark dringender Stimme auftritt, wünscht man sich, wie Wotan einen Blick in diese andere Welt zu werfen, von der man bisher noch nichts ahnte. So eröffnen sich hier wirklich neue Perspektiven auf das Leben, und vielmehr muss Oper nun wirklich nicht leisten.

Als konstante Klammer über den vier unterschiedlichen Ringentwürfen steht das Staatsorchester unter Lothar Zagrosek, das der instabilen Welt, die sich auf der Bühne darstellt, einen flexiblen, geschmeidigen Klang entgegensetzt. Unbelastet von allzu viel Wagnerscher Wucht lotet Zagrosek mit viel Gespür die subtilen Verästelungen der Partitur aus. So ergibt sich ein äußerst stimmiges Gesamtkonzept, das Wagners Weltentwurf 'Rheingold' abseits jeder ideologischen Verbrämung als Schauplatz menschlicher Konflikte präsentiert.

Paul Hübner