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Neue Zürcher Zeitung, 30. August 2003

Seelenseufzer
Joachim Schloemers neues Tanz- und Musiktheater in Luzern

Für eine Weile vertreibe Musik die Sorgen, singt eine monströse Gestalt mit ungleich langen, schlängelnden Armen. Wie die Stimme verstummt, die Sängerin abtritt, gibt ihr Rock ein Häufchen Menschen frei, das liegen bleibt und sich erst wieder zur neu erklingenden Melodie aufrappelt. Diese nehmen die Zurückgelassenen auf; sie verleiben sie sich sogleich ein und lassen die Musik durch ihre Körper und von Körper zu Körper messen - immer wieder, einmal behutsam erwägend, dann energisch fordernd, schliesslich sehnsüchtig melancholisch. "About Kings, Queens and Witches" heisst das neuste Tanz- und Musiktheaterstück von Joachim Schloemer, das bei Luzerntanz entstanden ist und mit dem das Luzerner Theater Saison 2003/04 eröffnet hat.
Es ist dies Schloemers drittes spartenübergreifendes Werk zu Barockmusik. Während "La guerra d'amore" von 1999 die ganze atmosphärische Fülle von Monteverdis Madrigalen auslotet, spannt "Les larmes du ciel" aus dem Jahr 2002 kammerspielartig einen feinen Bilderbogen über barocke Lamenti. Im neuen Stück nun greift der Choreograf musikalisch und thematisch auf das englische Repertoire des 17. Jahrhunderts zurück. Zusammen mit dem musikalischen Leiter Attilo Cremonesi hat er Kompositionen (Rezitative, Arien, Anthems und Instrumentalstücke) von Henry Purcell, Matthew Locke und John Blow ausgewählt. Auf einer zeitlos karg ausgestatteten, aber raffiniert wandelbaren Bühne (Gesine Völlm) treffen sich drei Sängerinnen und fünf Tanzende wie zufällig, um gemeinsam zu essen und zu trinken, zu lieben und zu trauern, sich zu bekämpfen und Mut zu machen.
Wiederum gelingt es Schloemer, Gesang und Tanz stimmig miteinander zu verbinden. Seine Choreografie nimmt nämlich kleine Gesten ebenso ernst wie durchstrukturierte (Bewegungs)Abläufe. Auch dramatur- gisch überzeugt die Arbeit. Sie lässt flüchtige Episoden aus Legenden und Sagen sowie allgemeine Befindlichkeiten aufscheinen. Und obschon sich ein Musikstück an das andere reiht, wirkt das Ganze nie wie eine Folge von Nummern. Dies bewirken einerseits geschickt gestaltete Übergänge, anderseits auch die bewusste Betonung von Flüchtigkeit und die klug kreierten Spannungsverhältnisse zwischen bewegten Bildern und Klängen. Einmal strukturiert der Tanz die Musik, dann wieder umgekehrt. Das La Cetra Barockorchester Basel gibt die Kompositionen differenziert wieder. Die Tanzenden zeigen sich vielseitig und überraschen immer wieder mit unkonventionellen physischen Interpretationen der Musik. Und vor allem auch die Sängerinnen, Tanja Ariane Baumgartner, Jennifer Davison und Violetta Radomirska, beweisen im mehrfachen Wortsinn Beweglichkeit. So seufzen sie sich, am Sandwich kauend, die Seele aus dem Leib, während dieser beherzt schon wieder zu neuen Taten bereit ist. Denn die Könige und Hexen ruhen nicht.

Christina Thurner